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01 - Nacht der Verzückung

01 - Nacht der Verzückung

Titel: 01 - Nacht der Verzückung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Balogh
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der ganzen Welt sein«, sagte sie, »lesen und
schreiben zu können.«
    Da
wurde ihm bewusst, wie viele Dinge er für selbstverständlich nahm. Er hatte nie
wirklich darüber nachgedacht, wie privilegiert er war, eine Ausbildung genossen
zu haben. »Vielleicht«, schlug er vor, »könntest du es lernen, Lily.«
    »Vielleicht«,
stimmte sie zu. »Obwohl ich wahrscheinlich zu alt bin. Ich schätze, ich wäre
auch keine gute Schülerin. Papa sagte immer, Lesen zu lernen sei das
Schwierigste gewesen, was er in seinem ganzen Leben getan hatte. Er hat es nie
als leicht empfunden.« Sie legte das Buch hin, ging zum Fenster und sah hinaus.
    Er
hatte nicht vorgehabt, ihr die Frage zu stellen, deren Antwort er so fürchtete -
gewiss noch nicht jetzt. Er fühlte sich nicht stark genug, die Antwort zu
verkraften. Und dennoch schienen Ort und Zeitpunkt richtig zu sein und
unwillkürlich sprudelten die Worte aus ihm heraus.
    »Lily«,
fragte er sie, »was hast du durchgemacht?«
    Er trat
neben sie, betrachtete ihr Profil und berührte mit den Fingern ihre Wange. Sie
sah so zerbrechlich aus und dennoch wusste er, dass sie auf ihre Art so stark
war wie die abgehärtetsten Veteranen. Aber wie sehr war ihre Kraft auf die
Probe gestellt worden? »Kannst du darüber reden?«
    Sie
drehte den Kopf und ihre riesigen blauen Augen blickten in seine.
Seltsamerweise sahen sie zugleich verwundet und ruhig aus. Was auch immer ihr
widerfahren war, hatte sie verletzt, vielleicht nachhaltig, aber es hatte sie
nicht gebrochen. Zumindest war es das, was er in ihren Augen las.
    »Es war
Krieg«, sagte sie. »Ich sah Leid, das viel schlimmer war als mein eigenes. Ich
sah Verstümmelung und Folter und Tod. Ich bin nicht verstümmelt worden. Ich
wurde nicht getötet.«
    »Wurdest
du ... gefoltert?«
    Sie
schüttelte den Kopf. »Ein paarmal geschlagen«, sagte sie, »wenn ich ... wenn
ich nicht gefügig war. Aber nur mit der Hand. Ich wurde nie wirklich gefoltert.«
    Es
hätte ihm gefallen, wenn in diesem Moment ein ganz bestimmter spanischer
Partisan vor seinen Augen erschienen wäre. Er hätte ihm liebend gern jeden
einzelnen Knochen im Leib zertrümmert und ihn dann mit bloßen Händen in Stücke
zerrissen. Er hatte Lily geschlagen? Auf einmal schien ihm dieses
Verbrechen ebenso abscheulich wie Vergewaltigung zu sein.
    »Also
nicht gefoltert«, sagte er. »Nur geschlagen und ... missbraucht.«
    »Ja.«
Ihr Blick senkte sich auf seine Krawatte.
    Es
schmerzte, sich vorzustellen, wie ein anderer Mann Lily missbrauchte. Nicht,
weil es sie für ihn weniger begehrenswert machte - er hatte über diese
Möglichkeit bereits in der vorigen Nacht nachgedacht und sie verworfen -,
sondern weil sie so ganz Unschuld und Licht und Güte gewesen war, und jemand
hatte sie zur Sklavin gemacht und hatte mit seiner Lust Dunkelheit und
Bitterkeit in ihren reinen Körper gestoßen. Und hatte sie vielleicht unheilbar
verletzt.
    Wie
konnte er das wissen? Vielleicht wusste sie es selbst nicht. Vielleicht war
ihre ruhige Billigung des Geschehenen, ihre verstandesmäßige Erklärung, es sei
eben Krieg gewesen, nur ein dünner Verband über einer großen, klaffenden Wunde.
Vielleicht unterschied sich ihr Umgang damit nur unwesentlich von Laurens ...
    In
diesem Moment verließ ihn der Mut - das bisschen Mut, das er für seine
erste Frage hatte aufbringen müssen. Hätte er gefragt, sie hätte ihm vermutlich
den Rest erzählt. All die abstoßenden Einzelheiten dessen, was sie erlitten und
ertragen und überlebt hatte. Er wollte es nicht wissen. Er würde dieses Wissen
nicht ertragen. Und das, obwohl er erkannte, dass es vielleicht notwendig für
sie war, darüber zu sprechen.
    Ah,
Lily, und du sprachst von Feigheit?
    Er
strich mit dem Rücken seiner Finger über ihre Wange und ihren Kiefer und legte
seine Hand dann unter ihr Kinn, um es anzuheben. »Es gibt nichts, wofür du dich
schämen müsstest, Lily«, sagte er. Empfand sie Scham? Schließlich hatte sie
ernsthaft damit gerechnet, dass er sich wegen Ehebruchs von ihr scheiden lassen
könnte. »Du hast nichts Falsches getan. Ich war es, der Fehler gemacht hat. Ich
bin derjenige, der sich schämen sollte. Ich hätte dich besser schützen müssen.
Ich hätte wissen müssen, dass sie die Mitte des Zuges angreifen würden. Ich
hätte erkennen müssen, dass die Möglichkeit bestand, dass du noch lebtest. Ich
hätte Himmel und Hölle in Bewegung setzen müssen, um dich zu finden und
auszulösen.«
    »Nein.«
Ihre Augen blickten ruhig

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