01 - Nacht der Verzückung
solange die
Möglichkeit bestand, dass das Männergespräch von den Damen mit angehört werden
konnte.
Die
Besuche mussten erwidert werden. Es war eine allgemein gültige Verbindlichkeit,
erklärte die Gräfinwitwe, sich bei jenen erkenntlich zu zeigen, die solch eine
Höflichkeit erwiesen hatten. Eines Nachmittags, als der Landauer auf dem Weg zu
Lady Leigh durch das Dorf fuhr, erspähte Lily Mrs. Fundy und wies ohne zu
zögern den Kutscher an, anzuhalten. Sie fragte Mrs. Fundy, wie es ihr gehe, und
erkundigte sich auch nach ihrem Mann und ihren Kindern. Es waren keine
rhetorischen Fragen. Interessiert lauschte sie den Antworten zu und streckte
die Arme nach dem jüngsten Kind der Fundys aus, um es zu umarmen und zu küssen -obwohl
Mrs. Fundy sie warnte, dass die Windeln gewechselt werden müssten und dass es
nicht gerade lieblich rieche. Aber als der Landauer sich wieder in Bewegung
setzte und sie mit strahlendem Gesicht ihre Schwiegermutter anblickte, stellte
sie fest, dass sie sich nur eine weitere sanfte Lektion eingehandelt hatte. Man
könne gewissen Leuten gnädig zunicken, aber es sei völlig unnötig, sich mit
ihnen auf ein Gespräch einzulassen.
»Gewisse
Leute«, verstand Lily, waren die aus den unteren Schichten. Aus ihrer eigenen
Schicht.
Lily
flüchtete nach draußen, wann immer sie konnte. Es war nicht besonders
schwierig, zumal die meisten Hausgäste Newbury verlassen hatten. Am Ende der
Woche waren alle außer dem Herzog und der Herzogin von Anburey, ihrer Tochter
Wilma, Joseph, Elizabeth und dem Herzog von Portfrey nach Hause zurückgekehrt -und
die anderen hatten vor, sich in den nächsten Tagen auf den Weg nach London zu
machen. Für gewöhnlich gelang es Lily, das Haus unbemerkt zu verlassen und
wieder zu betreten - sie hatte den Seiteneingang mit dem
Dienstbotenaufgang nicht vergessen, durch den sie am ersten Tag zu ihren
Gemächern gelangt war.
Sie
erkundete den ganzen Park - bei Sonne und Regen. Von Letzterem gab es im
zweiten Wochenabschnitt eine ganze Menge, aber ungünstige Wetterbedingungen
hatten Lily noch nie abgeschreckt. Den Strand liebte sie am meisten -
obwohl sie die Angewohnheit entwickelt hatte, auf dem Weg dorthin das Gesicht
vom Tal und der Hütte abzuwenden. Sie liebte auch die gepflegten Wiesen und
Gärten vor dem Haus, den dichten Wald, der zwischen dem Haus und dem Dorf lag
und durch den sich die Auffahrt schlängelte, und den Hügel hinter dem Haus mit
dem in die Landschaft eingefügten Pfad, der beinah hufeisenförmig verlief,
hinter dem Steingarten begann, über den Hügel führte und im Rosengarten hinter
den Stallungen wieder endete. Man nannte ihn den Rhododendronweg.
Eines
späten Nachmittags, nach dem ermüdenden Besuch bei Lady Leigh, spazierte sie
diesen Pfad entlang. Sie hatte ihr altes Kleid angezogen und ihr Haar gelöst,
allerdings zwang die Kühle des Tages sie dazu, einen Umhang und Schuhe zu
tragen. Aber für den Aufstieg und den Blick von der Kuppe und das Gefühl der
Abgeschiedenheit, das sie dort oben empfand, lohnte es sich, die
Unannehmlichkeiten der Witterung auf sich zu nehmen. Von ihrem Standpunkt aus
konnte sie das Meer und den Strand und die kleine Bucht sehen. Wenn sie sich
umdrehte, konnte sie Felder und riesige Weideflächen sehen, die sich in die
Ferne erstreckten.
Es war
nicht so schwer, dachte sie und schloss die Augen, ein gewisses
Zugehörigkeitsgefühl zu empfinden. Dies war England, das ihr Vater so geliebt
hatte, und es war ihr neues Zuhause. Wenn nur Neville eine der Hütten im
unteren Dorf besäße, dachte sie wehmütig, und täglich mit den anderen Männern
zum Fischen hinausfahren würde. Wenn nur ...
Aber
diese »Wenns« führten zu nichts. Sie sah sich um und suchte nach einem Platz,
wo sie sich hinsetzen, zur Ruhe kommen und die Schönheit des Anblicks tief in
ihr Mark und in ihre Seele aufnehmen konnte. Und dann erblickte sie den
perfekten Platz. Es war gut, dass Miranda nicht mehr da war und unter ihrem
schlechten Einfluss stand, dachte sie reumütig, als sie den Baum
hinaufkletterte, das Kleid über den Knien verknotet. Einige Zeit später saß sie
auf dem Ast, der von unten so einladend ausgesehen hatte. Ihre Augen hatten sie
nicht getäuscht. Es war ein breiter und kräftiger Ast. Sie konnte den Rücken an
den Stamm lehnen, die Beine ausstrecken und sich völlig sicher fühlen.
Jetzt
... Wenn sie nun alles losließ, sogar ihr Denken, konnte sie Teil der Schönheit
und des Friedens ihrer Umgebung werden. Sie atmete
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