01 - Nacht der Verzückung
glücklicher Tag gewesen - erstaunlich glücklich. Mit der
Erinnerung an die letzte Nacht und an diesen Morgen, die sowohl in ihrem Geist
als auch in ihrem Körper lebendig waren, und der Hoffnung, dass er vielleicht
heute Nacht erneut zu ihr kommen würde, hatte sie den Tag so gelebt, wie sie es
sich gewünscht hatte -genau so, wie er es von ihr erwartete - und
sie war glücklich gewesen. Aber nur, weil sie sich von der Realität entfernt
hatte. Sie war nicht einer der Dienstboten auf Newbury Abbey - sie war
die Gräfin. Und sie gehörte nicht zum Fischervolk - sie waren die Pächter
ihres Gatten. Sie hatte die Menschen gemieden, mit denen sie den Tag hätte
verbringen sollen, wenn sie eine gute Gräfin wäre. Sie hatte sich nicht
wirklich bemüht zu lernen, die Gräfin zu sein, die sie dem Namen nach war.
Aber
offensichtlich war sie unverbesserlich. Anstatt nach Dolly zu läuten und sich
umzuziehen und zum Tee nach unten zu gehen und damit Wiedergutmachung zu
leisten, riss sich Lily das hübsche, mit Zweigmuster verzierte Musselinkleid
vom Leib, sobald sie ihr Ankleidezimmer erreicht hatte, sprang in ihr altes
Baumwollkleid, griff sich ihren alten Schal und hastete die Hintertreppe
hinunter zum Seitenausgang. Sie rannte über die Wiese und rutschte und
strauchelte den Hügel hinab, wobei sie nach den Riesenfarnen griff, um sich
Halt zu verschaffen. In das Tal warf sie nicht einmal einen kurzen Blick -
sie wollte in ihrem momentanen Gemütszustand nicht ihre Erinnerungen zerstören -,
sondern rannte zum Strand und am Wasser entlang, das Gesicht himmelwärts
gerichtet, die Arme seitlich ausgestreckt, damit sie den vollen Widerstand des
Windes spüren konnte.
Nach
wenigen Minuten beruhigte sie sich wieder. Sie würde sich anpassen können,
sagte sie sich. Sie musste sich anstrengen, aber sie konnte es schaffen, wenn
sie es versuchte. Sie hatte fast ihr ganzes Leben damit verbracht, sich ständig
wechselnden Umständen anzupassen. Sie zwang sich, an die größte Herausforderung
von allen zu denken. Sie hatte Fügsamkeit und Gehorsam gelernt - und
sogar die spanische Sprache -, als Mittel zum Überleben. Wenn sie das geschafft
hatte, konnte sie gewiss auch lernen, eine Dame und eine Gräfin zu sein.
Die
Ebbe hatte eingesetzt. Die Felsen, die den Strand mit der kleinen Bucht von
Lower Newbury verbanden, ragten halb aus dem Wasser. Lily erklomm sie. Nicht,
dass sie vorgehabt hätte, wieder den ganzen Weg ins Dorf zu gehen, aber sie
hatte das Bedürfnis, mehr Energie zu verbrauchen, als ihr ein Spaziergang oder
ein Lauf über den Strand abverlangt hätten. Und auf den Felsen erwartete sie
ein tiefes Gefühl von Wildnis und Abgeschiedenheit, mit dem Meer auf der einen
und einer fast senkrecht abfallenden Felswand auf der anderen Seite. Nach einer
Weile blieb sie stehen und drehte den Kopf, um über das Meer zu blicken.
Doch in
diesem Moment hörte sie ein Geräusch, das weder vom Ozean noch vom Wind oder
den Möwen verursacht worden war. Ein Geräusch, das sie nicht zuordnen konnte,
das sie allerdings trotzdem fast augenblicklich in Panik erstarren ließ. Sie
sah sich beunruhigt nach rechts und links um, aber da war nichts. Niemand. Sie
konnte beide Richtungen gut überblicken.
Aber
das Gefühl wollte nicht weichen. Was war es, das sie gehört hatte? Das
Knirschen von Steinen?
Sie sah
nach oben.
Alles
ging so schnell, dass es auch im Nachhinein schwierig war, den Ablauf zu
beschreiben - sogar mit klarem Kopf. Doch davon war Lily im Augenblick
weit entfernt. Sie sah jemanden auf der Felsspitze über ihr stehen – eine Gestalt
in einem dunklen Umhang. Und dann verwandelte sich die Gestalt in einen großen
Felsbrocken, der auf sie herabstürzte. Sie drehte sich weg auf die Felswand zu
und er krachte genau dort zu Boden, wo sie gestanden hatte ein gewaltiger
Findling, der sie ohne jeden Zweifel getötet hätte.
Sie
presste sich mit dem Rücken gegen die Felswand und ihre Hände versuchten
krampfhaft, sich links und rechts von ihr festzukrallen. Und sie starrte auf
den Felsbrocken, der ihr Tod gewesen wäre, und ihr Herz hämmerte ihr in der
Kehle und in den Ohren, dass es ihr den Atem und das Denken nahm.
Es war
ein Unfall, war ihr erster zusammenhängender Gedanke. Der Stein hatte sich
durch Erosion im Laufe der Zeit gelöst - so hatte sie es gelernt -
und war heruntergefallen. Als sie sich umschaute, erkannte sie, dass die Felsen
ihrer Umgebung mit ähnlichen Findlingen übersät waren, die schon
Weitere Kostenlose Bücher