01 - Nacht der Verzückung
verbracht hätten.
Sie
waren verheiratet, sagte sie sich, als ihre verschreckten Schritte sie über den
Waldpfad zu den Eingangstoren und zum Witwenhaus führten. Natürlich waren sie
Liebende. Und natürlich hatten sie jedes Recht ...
Doch
plötzlich kam Lauren eine Erkenntnis, die ihr Herz und beinahe auch ihren
Verstand gefrieren ließ. Sie wäre niemals in der Lage gewesen, so etwas zu tun.
Sie wäre niemals in der Lage gewesen, mit ihm ... mit ihm nackt zu sein.
Und ohne jede Verlegenheit Spaß zu haben. Sie wäre nicht einmal in der Lage
gewesen, mit ihm auf diese Art zu lachen - mit all der Sorglosigkeit
zweier Menschen, die das Glück des Augenblicks genossen. Sie hatten, natürlich,
gelacht, als sie Kinder waren, sie und Gwen und Neville. Und gewiss hatten sie
auch danach noch gelacht. Aber nicht so.
Sie
wäre nicht in der Lage gewesen, ihm solche Freude zu bereiten, wie es Lily
offensichtlich möglich war.
Eine
beängstigende Erkenntnis. Die Vorstellung, dass sie und Neville
zusammengehörten, dass sie füreinander geschaffen waren, dass sie einander
liebten, war so sehr Teil ihres geordneten Weltbildes, an das sie sich ihr
ganzes Leben lang geklammert hatte, dass sie nicht sicher war, ob sie es
gesunden Geistes überstehen würde, diese Vorstellung aufgeben zu müssen.
Sie
würde sie nicht aufgeben. Sie liebte ihn wirklich. Mehr als Lily. Lily konnte
ihn vielleicht auf diese rohe, körperliche Art lieben, aber Lily konnte weder
lesen noch schreiben oder sich mit ihm über Themen unterhalten, die ihm etwas
bedeuteten. Sie konnte nicht für ihn das Haus führen oder seine Freunde
unterhalten oder die hundertundeine Aufgabe seiner Gräfin übernehmen. Sie
konnte ihn nicht dazu bringen, stolz auf sie zu sein. Sie konnte ihn nicht
durch und durch so kennen wie jemand, der mit ihm aufgewachsen war, und
zweifelsfrei wissen, was zu tun war, um sein Wohlbefinden und sein Glück
sicherzustellen.
Lily
war ihm nicht seelenverwandt.
Doch
Lily war Nevilles Frau.
Plötzlich
blieb Lauren auf dem Pfad stehen und zog den dunklen Umhang fester um sich. Ihr
fröstelte trotz ihres langen Spaziergangs.
Es war
nicht fair.
Es war
nicht recht.
Wie sie
Lily hasste. Und wie die Gewalttätigkeit ihrer eigenen Gefühle sie
verängstigte. Als eine Dame hatte sie zeit ihres Lebens Zurückhaltung und Güte
und Nettigkeit praktiziert. Wenn sie brav war, hatte sie als Kind geglaubt,
würde jeder sie lieben. Wenn sie eine perfekte Dame war, hatte sie gedacht, als
sie älter wurde, würde jedermann sie wertschätzen und ihr vertrauen und sie
lieben.
Neville
würde ihr vertrauen und sie lieben. Endlich hätte sie einen Ort, wo sie
wirklich hingehörte.
Aber er
war fortgegangen und hatte Lily geheiratet. Lily! Das genaue Gegenteil dessen,
womit sie, Lauren, immer geglaubt hatte, ihn letztendlich für sich gewinnen zu
können.
Sie
wünschte sich, Lily wäre tot. Sie wünschte sich Lilys Tod.
Sie
wünschte, Lily möge sterben.
Lauren
stand eine ganze Weile auf dem Pfad, in ihren Umhang gehüllt, zitternd unter
der ungewohnten Heftigkeit ihres Hasses.
***
Getragen von
frischer Hoffnung kehrte Lily zum Herrenhaus zurück. Sie war nicht so naiv zu
glauben, dass sich all ihre Probleme wie durch Magie in Luft auflösen würden,
aber sie spürte, dass sie die Kraft und Neville die Geduld hatte, eins nach dem
andern anzugehen und zu lösen.
Dolly
erwartete sie schon in ihrem Ankleidezimmer, als sie eintrat. Sie betrachtete
ihre Herrin von Kopf bis Fuß und schüttelte den Kopf.
»Ihr
werdet Euch noch den Tod holen, Mylady«, schimpfte sie. »Euer Haar ist nass.
Und Ihr habt nichts an den Füßen. Ich weiß nicht, was ich Seiner Lordschaft
sagen soll, wenn Ihr Euch erkältet.«
Lily
lachte. »Ich war mit ihm zusammen, Dolly«, sagte sie.
»Ach du
meine Güte«, sagte Dolly, vorübergehend fassungslos. »Lasst mich Euch aus dem
Kleid helfen, Mylady.« Sie war immer leicht schockiert, wenn Lily etwas tat,
was ihrer Meinung nach Dienstmädchen vorbehalten war - wie zum Beispiel
sich selbst ein Kleidungsstück an- oder auszuziehen.
Lily
kicherte. »Und sein Haar ist ebenfalls nass, Dolly«, sagte sie, »obwohl ich
glaube, dass sein Kammerdiener im Gegensatz zu dir keine Probleme haben wird,
sein Haar zu kämmen. Wir waren schwimmen.«
»Schwimmen?«
Dollys Augen weiteten sich vor Schreck. »Zu dieser Tageszeit? Im Mai? Ihr und
Seine Lordschaft? Ich dachte immer, er wäre ...« Sie stockte, als ihr einfiel,
mit wem sie sprach, und
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