01 - Nacht der Verzückung
früher
heruntergefallen sein mussten.
Nein,
es war kein Unfall. Der Stein war geworfen worden - von jemandem in
einem dunklen Umhang. Von dem Herzog von Portfrey? Das war lächerlich. Von
Lauten? Lä cherlich! Natürlich war niemand dort oben gewesen. In jenen Sekundenbruchteilen
hatte sie mit dem fallenden Stein Gefahr auf sich zukommen sehen und sie mit
jener Gefahr in Zusammenhang gebracht, mit der sie sich seit jenem Nachmittag
auf dem Rhododendronweg beschäftigt hatte.
Aber
es war jemand dort gewesen!
War er
noch immer da, stand über ihr und versuchte festzustellen, ob der Mordanschlag
geglückt war? Oder war es eine Sie?
Warum
sollte jemand sie umbringen wollen?
Kam der
vermeintliche Mörder etwa in diesem Moment den Hügelpfad herunter durch das Tal
und ging hinüber zu den Felsen, um nachzusehen, ob er erfolgreich gewesen war?
Oder sie?
Lily
war erneut kopflos vor Panik. Sie befürchtete, zu Staub zu zerfallen, wenn sie
auch nur einen Muskel bewegte. Aber wenn sie sich nicht bewegte, würde sie hier
womöglich bis in alle Ewigkeit stehen. Wenn sie sich nicht bewegte, konnte sie
unmöglich ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Erinnerungen an ähnliche
Momente während des langen, beängstigenden Marsches durch Spanien und Portugal
kamen in ihr hoch. Einige Male hatte sie fast die Nerven verloren, als sie
hinter jedem Felsen Partisanen vermutete und fürchtete, dass sie ihr ihre
Geschichte nicht glauben würden.
Mit
zitternden Knien löste sie sich von der Felswand und atmete langsam ein. Sie
blickte nach oben. Da war niemand - natürlich nicht. Es war auch niemand
unten am Strand zu sehen - zumindest noch nicht. Sie war versucht, sich
in die entgegengesetzte Richtung aufzumachen, in der Hoffnung, die Ebbe möge
weit genug fortgeschritten sein, dass sie das Dorf und die Gesellschaft anderer
Menschen erreichen konnte. Aber sie wollte nicht vor ihrer Angst davonlaufen.
Sie würde sie niemals besiegen können, wenn sie das tat. Sie kletterte
vorsichtig über die Felsen zum Strand zurück. Da war niemand. Es war auch
niemand im Tal oder auf dem Hügel.
Es war
überhaupt niemand da gewesen, sagte sie sich entschlossen, als sie hastig den
Hügel erstieg. Oben angekommen zwang sie sich, dem Waldpfad zu folgen, bis sie
glaubte, in der Nähe der Stelle zu sein, und suchte sich dann ihren Weg durch
die Bäume, bis sie auf offenes Land kam, das an der Felskante endete. ja, sie
war ungefähr an der richtigen Stelle, obwohl sie sich nicht der Felskante
näherte, um sich zu vergewissern. Es war niemand da und es gab kein Anzeichen
dafür, dass irgendjemand dort gewesen war.
Sie
hatte nur einen Felsen gesehen.
Sie
begnügte sich mit dieser Erklärung, bis sie sich dem Haus näherte. Die Panik kehrte
zurück, als die Sicherheit der Mauern näher kam. Vielleicht, dachte sie, wäre
sie durch den Haupteingang gerannt, hätte nach Neville gefragt und sich in die
Sicherheit seiner Arme gestürzt, hätte sie vergessen, wie sie aussah. Aber sie
hatte es nicht vergessen und so ging sie zum Seiteneingang und stieg über die Hintertreppe
zu ihren Gemächern. Sie wusch sich und zog sich um und ihre Hände hörten
langsam wieder auf zu zittern.
Es
klopfte, die Tür öffnete sich zur Hälfte und es erschien Dollys Kopf.
»Oh,
Ihr seid tatsächlich hier, Mylady«, sagte sie. »Seine Lordschaft hat Euch
gesucht. Er wartet in der Bibliothek, Mylady.«
»Danke,
Dolly.«
Lily
musste ihre ganze Willenskraft aufbieten, um nicht mit undamenhafter Hast zu
eilen. Er war in der Bibliothek und wartete auf sie. Sie konnte nicht schnell
genug zu ihm kommen. Mehr als alles auf der Welt wollte sie seine Arme um sich
spüren. Sie wollte sich mit ihrem Körper an ihn pressen und seine Wärme und
Kraft spüren. Sie wollte den Kopf an seine Schulter legen und seinen
gleichmäßigen Herzschlag hören.
Sie
wollte in ihn hineinkriechen.
Kapitel 15
Die Nachmittagspost
hatte die restlichen Antworten gebracht, auf die Neville gewartet hatte. Aber
Lily war nirgendwo zu finden gewesen. Sie war zwar mit seiner Mutter aus dem
Dorf zurückgekehrt, aber nicht zum Tee erschienen. Das überraschte ihn nicht,
nachdem ihm seine Mutter vom Nachmittag berichtet hatte. Zwei Stunden im
Vikariat auf dem Trockenen zu sitzen, hatte sie ernsthaft in Verlegenheit
gebracht. Er zweifelte nicht daran, dass Lily auf dem Heimweg sanft gerügt
worden war.
Er
hätte ihren langen Aufenthalt im unteren Dorf amüsant gefunden, wäre er nicht
so angespannt gewesen. Er
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