01 - Schatten der Könige
sprach.
»Alael, die Zeit ist unser Feind und die Eile unser einziger Verbündeter. Wir müssen fort sein, bevor es unseren Feinden gelingt, uns in die Enge zu treiben und …«
»Wenn ich aber nicht gehen will, Onkel Volyn? Wenn ich nun keine große Königin werden möchte? Bist du denn nie auf den Gedanken gekommen, mich zu fragen, was ich eigentlich will?« Ihre Stimme klang drängend und war von einer Kraft erfüllt, die Volyn noch nie in ihr gehört hatte. Das machte ihn stolz, wenn ihre Worte ihn auch ärgerten.
»Was wir wollen und was wir zu tun haben, ist nicht immer dasselbe«, antwortete er gedämpft. »Du weißt, wer deine Vorfahren waren, welches Blut durch deine Adern fließt, und du kennst deine Bestimmung …«
»Ja, das weiß ich, weil du und Mutter es mir immer wieder gesagt haben.« Sie schaute auf den Kanal hinaus, und ihr langes blondes Haar schimmerte schwach im Dunkeln. »Ihr glaubt beide, dass Ihr so viel von mir wisst«, fuhr sie bitter fort. »Aber das stimmt nicht. Es gibt vieles, was nur mir allein gehört und nicht Spielball des Schicksals ist!«
Volyn starrte seine Nichte jetzt mit kalter Wut an. Sie bemerkte seine Miene und wich zwei Schritte zurück.
»Schicksal? Was weißt du denn schon vom Schicksal? Glaubst du etwa, es wäre eine große Macht, die uns wie Steine auf einem Brett herumschiebt, wie ein Puppenspieler, der seine Marionetten an den Fäden tanzen lässt?« Er schüttelte den Kopf. »O nein, mitnichten. Das Schicksal ist ein Staubkorn, oder eher ein Keim der Ehre, der über die Erde schwebt, dieses oder jenes Leben berührt, wie eine Feder auf ihrer endlosen Reise hierhin und dorthin treibt. Wenn es sich uns zeigt, müssen wir bereit sein, es zu mit aller Kraft zu packen und uns selbst dem Weg der Größe zu weihen…« Seine Stimme wurde sanfter. »Wenn dieser Augenblick kommt, ist die Entscheidung klar und einige Dinge, kostbare Dinge, müssen geopfert werden, damit dieser Keim des Schicksals ungehindert wachsen kann. Ich wünschte, das könntest du begreifen …«
Sie hatte ihre Haltung nicht verändert, schien jedoch unsicher, denn sie kaute auf ihrer Lippe. Volyn seufzte, breitete die Hände aus und trat näher.
»Vielleicht hast du ja recht. Ich werde alt, und manchmal vergesse ich, wie es war, jung zu sein und das Leben erst zu beginnen.« Er legte ihr entschlossen und dennoch sanft die Hand auf die Schulter und drehte sie zu sich herum. »Ich möchte dich nur um eines bitten.«
»Um was, Onkel?«
»Dass du mir verzeihst.« Mit der Faust der anderen Hand landete er einen raschen Schlag gegen ihren Kiefer. Der Hieb war gerade fest genug, sie zu betäuben. Sie sackte zusammen, und er fing sie auf, hob sie auf seine Schultern und hastete dann zu dem kleinen Steg.
Der Kampfeslärm hatte einige Vögel von den Giebeln des Nachbargebäudes aufgeschreckt, die jetzt zwischen den langen Schatten der Häuser umherflatterten. Volyn hatte die andere Seite des Steges beinahe erreicht, als er rasche, gedämpfte Schritte hinter sich hörte. Er drehte sich um und versuchte gleichzeitig, mit seiner freien Hand die Armbrust zu ergreifen, hielt jedoch reglos inne, als er die Schwertspitze direkt vor seinen Augen sah.
»Lasst das Mädchen vorsichtig auf den Steg hinunter«, befahl Ikarno Mazaret. Sein Haar war wirr, und seine Augen glitzerten in kalter Wut.
Volyn gehorchte, und hielt dabei Alaels Kopf fest, damit er nicht gegen das hölzerne Geländer schlug. Sie stöhnte und ihre Lider flatterten. Volyn richtete sich auf, ohne den Blick von ihrem Gesicht zu nehmen, machte einen halben Schritt auf Mazaret zu, beschrieb mit dem Ellbogen einen scharfen Haken und schlug damit das Schwert zur Seite. Mit einem triumphierenden Knurren legte er sein ganzes Gewicht in den Schlag mit seiner anderen Faust.
Mazaret wich dem Hieb jedoch aus, packte Volyns Oberarm und zog kräftig. Volyn taumelte, prallte auf das hölzerne Geländer des Steges, das unter seinem Gewicht krachend barst, und fiel in das eiskalte Wasser des Kanals.
Es schien sämtliche Wärme aus seinen Knochen zu saugen, bis er schließlich prustend die Oberfläche erreichte. Er schüttelte sich und hörte, wie Schritte sich entfernten. Wutentbrannt streifte er den schweren, durchnässten Umhang ab und schwamm zu einer rostigen Leiter neben dem Steg. Fluchend kletterte er hinauf, während er sich die Qualen und Demütigungen vorstellte, mit denen er sich an Mazaret rächen würde. Gleichzeitig rang er mit seiner Furcht um
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