01 - Schatten der Könige
Schritte an ihm vorbeiflogen. Tauric beugte sich staunend aus der Nische und beobachtete, wie sie im Verbund, fast wie ein Wesen, hoch über die Stadt stiegen. Andere Vögel gesellten sich dem Schwärm hinzu, und sie stiegen immer weiter, bis er sie aus den Augen verlor. Er lächelte und schaute zu dem Waffenmeister, der das ganze Spektakel offenbar verpasst hatte. Dabei fiel sein Blick auf das Mädchen, das am Kanal entlang in ihre Richtung rannte.
Ihr langes Haar wehte wie eine Fahne hinter ihr her. Es war so hell, dass es beinahe weiß wirkte. Tauric starrte sie an, während sie näher kam, und konnte ihre Gesichtszüge in dem schwachen Licht besser erkennen. Eine merkwürdige Spannung erfasste ihn, das Gefühl, über einem Abgrund zu schweben. Nur schwang noch mehr darin mit, Erwartung, Faszination und … Wiedererkennen. Er erinnerte sich an die verlassene Mühle und die Vision, die er im Schlaf gesehen hatte, an die bewaffneten Krieger, die zerfielen, wenn er sie traf, und an den einen, dessen Helm er hinunterrissen hatte, um sich einer Frau gegenüberzusehen, mit langen, weißen Haaren und Augen wie Sternen … Das Mädchen hatte ihn entdeckt und lief langsamer, wobei sie ihn ebenfalls anstarrte. Ihr Haar war von einem sehr hellen Blond, und ihre Augen wirkten ganz normal. Aber sie war dennoch die Frau aus seiner Vision, dessen war sich Tauric sicher. Er trat aus der Nische, ohne auf das missbilligende Knurren des Waffenmeisters zu achten. Das Mädchen öffnete anscheinend furchtsam den Mund und streckte abwehrend eine Hand aus.
»Nein«, flüsterte sie. »Nein!«, wiederholte sie lauter und rannte wieder los, stürmte an Tauric vorbei und am Kanal entlang zu einem kleinen Steg.
Tauric wurde von einem ihm fremden Drang gepackt, schaute zu dem Waffenmeister zurück, der mittlerweile aufgestanden war, und winkte ihn zu sich. In dem Moment tauchte eine weitere Gestalt aus der Dunkelheit auf, der Lordkommandeur Mazaret.
»Hinter ihr her, Junge! Halte sie auf! Hilf ihr …«
»Nein!«, befahl der Waffenmeister. »Du bleibst!« Als er den Lordkommandeur erkannte, griff er nach seinem Schwert. Tauric zuckte mit den Schultern und machte sich seinerseits mit gezücktem Schwert schleunigst an die Verfolgung des Mädchens.
Die junge Frau vor ihm stolperte und stürzte, und Tauric hörte ihren Schmerzensschrei. Sie rappelte sich jedoch hastig wieder auf und stürmte auf den Steg. In der Mitte hielt sie kurz inne und schaute zu ihm zurück. Tauric hörte die schweren Schritte des Lordkommandeurs hinter sich, als er selbst die Brücke erreichte. Seine Schritte hämmerten auf den schweren, hölzernen Planken. Auf der anderen Seite des Kanals lief die junge Frau eine bergige Straße hinauf, die nach rechts abbog und hinter den Häusern verschwand und, wie Tauric hoffte, auch von dem Platz wegführte. Vielleicht hoffte sie ihn in dem Gewirr der kleinen Gassen abzuschütteln, aber ihr schwanden sichtlich die Kräfte, und Tauric holte rasch auf.
Dann bog sie um eine Ecke zwischen den hohen Mauern und verschwand aus seinem Blickfeld. Er lief schneller, hastete um die Ecke und hielt sich dabei an der Mauer fest. Er sah gerade noch, wie das Mädchen in einem Durchgang zur Linken verschwand. Keuchend erreichte er die Stelle einen Augenblick später, stürzte hindurch, sprang eine kurze Treppe hinter dem mit Efeu bewachsenen Tor hinab und landete in einer dunklen Gasse, wo sich ihm ein schrecklicher Anblick bot. Das Mädchen lag im Schlamm, seine Beine von einem Fangnetz umschlungen, und ein Mann in einem schwarzen Lederharnisch, vermutlich ein Stadtwächter, ging mit erhobenem Speer auf die junge Frau zu. Ohne innezuhalten stürzte sich Tauric auf den Mann. Dieser bemerkte ihn im letzten Moment und drehte sich um, aber Tauric rammte seine Schulter in die Seite des Speerträgers, und beide fielen zu Boden. Tauric hielt sein Schwert wie einen Dolch und trieb es, gepackt von Furcht und Zorn, dem Mann zwischen die Schultern. Der Wächter stieß einen gequälten Schrei aus, der zwischen den Mauern widerhallte, und wand sich in Qualen.
Tauric ließ den Schwertgriff los und kroch zu dem Mädchen hinüber. Der schreckliche Todeskampf des Mannes, der von kurzen, keuchenden Atemzügen begleitet wurde, dauerte nur einige Sekunden, bis er reglos liegen blieb. Im selben Moment brandete Jubel auf, und jetzt erst bemerkte Tauric, dass der Kampf Zuschauer gehabt hatte. Das Mädchen und er befanden sich am Ende einer Gasse, die auf einen
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