01 - Schatten der Könige
spät, alter Mann«, widersprach Nerek und faltete ihre brennenden Hände vor sich. »Ihre Zeit ist gekommen.«
»Nein!«
Babrel versuchte, an Suviel vorbei zu laufen, doch sie schlang ihren Arm um seine Hüfte und hielt ihn zurück. »Sei kein Narr, Babrel. Sie wird …«
Heißes, gelbes Feuer wuchs aus Nereks Händen und zischte auf die beiden Jungen zu. Der eine, Gawn, machte eine kleine Handbewegung, und im nächsten Augenblick zerbarst das magische Feuer in Dutzende kleiner Funken, die sich wie ein Fächer teilten, bis sie auf den Boden fielen, wo sie zischend erloschen. Nereks Lächeln verstärkte sich jedoch nur, und das Feuer in ihren Händen verwandelte sich von einem zornigen Goldrot in ein glühendes Weiß.
Jetzt trat Gawn einen Schritt auf sie zu, deutete mit einer Hand auf sie und sagte mit seiner geisterhaften Doppelstimme: »Wir sehen auch, was verborgen ist. Wir können deine Seele sehen.« Seine Miene verzerrte sich zu einer boshaften Fratze, bei deren Anblick Suviel schauderte, und er beschrieb mit dem Zeigefinger einen Kreis in der Luft vor sich. Plötzlich hing dort eine schwarze Scheibe, deren glänzende Oberfläche spiegelglatt war. Nerek schnappte nach Luft und wich stolpernd zurück an den Tresen, dessen verbranntes Holz qualmte und verkohlte. Sie versuchte sich abzustützen, während sie in unverhülltem Entsetzen auf die schwarze Scheibe starrte. Dann wandte sie sich mit einem Schrei davon ab, fiel auf die Knie und wimmerte wie ein Tier, während sie langsam auf dem Boden zusammensank.
Während Suviel zu ihr lief, fuhr Gawn mit der Hand durch den schwarzen Kreis, der sich in zähe, graue Schwaden auflöste. Der andere Junge, Rovi, sagte etwas zu ihm, und Gawn nickte. Suviel achtete jedoch nicht weiter auf die beiden, sondern kniete sich neben die benommene Nerek auf den Boden, und versuchte, sie in eine sitzende Position zu ziehen. Es erstaunte sie, dass sie überhaupt Mitgefühl für diese Frau empfand. Dann schrie sie auf und wich zurück, als sie Nereks Gesicht sah. Die eine Hälfte war das vertraute Antlitz von Nerek, in der anderen jedoch schienen sich die Haut und selbst die Knochen zu verändern und modellierten ein anderes Gesicht, dessen Züge sich immer wieder abzeichneten, nur um dann wieder zu verschwinden. Suviel erinnerte sich noch sehr genau an den entsetzlichen Moment am Abgrund in den Honjir-Bergen, als Byrnak einen jungen Mann aus seiner Kompanie in dieses Spiegelkind verwandelt hatte. Die eine Hälfte des Gesichts, das Suviel jetzt sah, war eindeutig männlich, aber was bedeutete das für Nerek? War sie wirklich nicht mehr als eine rissige Maske? Und was hatte sie in der schwarzen Scheibe gesehen?
Plötzlich fühlte Suviel ein heißes Lodern auf ihrer Schulter und einen stechenden Schmerz. Sie wandte den Kopf und sah Gawn, der mit seinen kleinen Händen an einem ungeformten, feurigen Umriss zerrte. Es war der Wächter, den Nerek ihr auf die Schultern gesetzt hatte. Mitten im Kampf schlug der Wächter mit einem glühenden Tentakel aus und fügte Gawn eine klaffende Wunde auf der Wange zu. Doch der Junge zuckte nicht einmal mit der Wimper, stieß mit der Hand in die Mitte der formlosen Kreatur und zerriss sie in kleine, glühende Stücke und dunkle Fetzen. Aus der Wunde in seinem Gesicht rann kein einziger Tropfen Blut, und noch während Suviel ihn anstarrte, schloss sich der Riss und verheilte, ohne eine Spur zu hinterlassen.
Nerek kauerte am Boden, die Hände vor das Gesicht geschlagen und wiegte sich vor und zurück, während sie wie ein kleines Kind schluchzte. Gawn warf ihr einen kalten Blick zu und wandte sich dann zu Babrel um, der immer noch an der alten Treppe stand und sie angstvoll beobachtete. »Die Akolythen werden bald hier sein«, verkündete der Junge. »Du musst die anderen an einen sicheren Ort bringen.«
Babrel sah den anderen Jungen an. »Und Rovi?«
»Sie suchen nach uns, also führen wir sie in die Irre.« Er richtete seinen Blick auf Suviel und nickte in Nereks Richtung. »Sie wissen jetzt auch von ihr und werden sie bald finden. Wenn du mit dem alten Mann gehst, kannst du ihnen vielleicht entkommen.«
Suviel betrachtete die hilflose Frau neben sich und empfand Mitleid. »Ich kann sie nicht einfach hier lassen«, erwiderte sie. »Ich muss ihr irgendwie helfen.«
»Dann bring sie hier weg, und halte sie von den anderen Kindern fern. Sofort.«
Suviel seufzte. Trotz der Enttäuschung und des Ärgers, der sie überkam, wusste sie, dass der
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