01 - Tage der Sehnsucht
mit Schneidern und
Waschfrauen unter einem Dach leben, sondern zog es vor, auf der anderen Seite
der bewaldeten Schlucht zu wohnen, die sich am Fuße des Felsens erstreckte,
dort, wo die neue Stadt in die Höhe geschossen war.
Wie viel Jamie wohl
hinterlassen hatte? Mr. Sinclair suchte sich seinen Weg auf dem schmutzigen
Gehsteig. Dabei murmelte er vor sich hin, nannte Beträge von Tausenden und
Abertausenden.
Als er an St. Giles
vorbeikam, schlug ihm plötzlich das Gewissen. Sein Bruder war tot, und er,
Roderick Sinclair, hatte ihm bis jetzt noch keine einzige Träne nachgeweint. Er
versuchte, ein paar liebevolle Gedanken an Jamie herbeizuzaubern, schaffte es,
aber nicht. Jamie, der Ältere, hatte ihn, als er noch ein Kind war, immer
gequält. Später hatte er die einzige Frau, die Roderick Sinclair je geliebt
hatte, geheiratet. Zu diesem Zweck erwarb er die Hypothek auf dem Haus der
Mutter und drohte der Tochter, sie auf die Straße zu setzen, wenn sie ihn nicht
eheliche. Sie hieß Catherine Campbell. Roderick konnte nicht vergessen, dass Jamie
sie gar nicht geliebt, sondern nur aus Boshaftigkeit geheiratet hatte. Nun ja,
die arme Catherine war jung gestorben und hatte Jamie allein, ohne Kinder
zurückgelassen. Pech für ihn! Der Tod wäre das kleinere Übel für ihn gewesen.
Mr. Sinclair juckte
es in der großen Zehe, ein schlimmes Zeichen. Die Gicht. Nun ja, mit Jamies
Geld würde er sich die besten Weine leisten können. Sicherlich kam das Übel von
dem billigen Bier, das er trank.
Das Büro des
Rechtsanwalts befand sich im unteren Teil der Royal Mile. Erst als Mr. Sinclair
den dunklen Korridor betrat, der in das Innere des Gebäudes führte, erkannte
er, dass es besser gewesen wäre, wenn er seine Kleidung gewechselt hätte. Er
war am zeitigen Morgen auf einem Stuhl eingeschlafen und trug jetzt noch den
altmodischen Mantel aus Chintz und die Kniehosen, die er früh angehabt hatte.
Sein linker Strumpf war von einem Spritzer Bier besudelt und seine Krawatte mit
Schnupftabakflecken bedeckt - er musste sie mit einem Taschentuch
verwechselt haben. Er konnte nur hoffen, dass der Anwalt in seiner Aufmachung
ein Zeichen tiefer Trauer sah.
Mr. Sinclair schob
seine Perücke zurecht und drückte den Zweispitz fester in die Stirn. Er stieg
die beschwerliche Treppe hinauf und musste dabei über zwei friedlich
schnarchende Betrunkene hinwegklettern.
»Kommen Sie herein,
Mr. Sinclair«, sagte Mr. Kneebone, der Anwalt, mit Grabesstimme. »Es ist
wirklich ein trauriger Tag. Ihr Bruder war eine außergewöhnliche Persönlichkeit
dieser Stadt.«
»Sicher, sicher«,
erwiderte Mr. Sinclair, rieb sich die Hände und blickte hoffnungsvoll auf den
Stoß Pergamente auf dem Schreibtisch des Anwalts. »Sie werden mich bestimmt
nicht unnötig in meinem Kummer verharren lassen, Mr. Kneebone. Deshalb schlage
ich Ihnen ganz bescheiden vor, sofort mit der Verlesung des Testaments zu
beginnen.«
Mr. Kneebone warf
Mr. Sinclair über den Rand seiner Brille einen missbilligenden Blick zu,
hustete trocken, ging mit aufreizender Langsamkeit knarrenden Schrittes um
seinen Schreibtisch herum und setzte sich dahinter.
Auch Mr. Sinclair
nahm Platz. Er setzte sich in einen alten Sessel am Kamin und wartete darauf,
gute Nachrichten zu hören.
Anfangs war er gar
nicht in der Lage zu begreifen, was der Anwalt sagte. Als Summen genannt
wurden, die für Wohltätigkeitsvereine bestimmt waren, aber sein Name mit keinem
Wort erwähnt wurde, schüttelte Mr. Sinclair sein gewichtiges Haupt wie ein
Stier, der von Fliegen belästigt wird. Er sah im Geiste das Armenhaus vor sich
und unterbrach den Anwalt: »Hm, Mr. Kneebone, erwähnt mich denn Jamie nicht?«
»Möchten Sie, dass
ich nur den kleinen Absatz vorlese, der sich auf Sie bezieht?«
»Ja.«
»Sehr wohl, ich
dachte allerdings, es würden Sie alle wohltätigen Verfügungen Ihres Bruders
interessieren. Ein sehr großzügiger Mann. Warten Sie mal ...« Er raschelte mit
dem Pergament. Mr. Sinclair befürchtete das Schlimmste. »Ah, hier hab' ich es.
>Meinem liederlichen Bruder Roderick ... <«
Mr. Sinclair
errötete. »Jamie machte gern Scherze«, murmelte er.
»>Meinem liederlichen
Bruder, Roderick Sinclair<«, fuhr Mr. Kneebone ernst fort, »>hinterlasse
ich mein Mündel, Miß Fiona Sinclair.<«
»Wen? Was?«
»Miß Fiona
Sinclair.«
»Wer zum Teufel ist
das?«
»Wenn Sie zu Ihrem
Bruder in seinen letzten Lebensjahren Kontakt gehabt hätten, wüssten Sie, dass
er eine junge Dame unter seinen
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