01 - Winnetou I
Kommende ruhig abzuwarten und im gegebenen Augenblick die Wirkung der Haarlocke zu versuchen. Der Blick, welchen ich jetzt in das Freie geworfen hatte, war ganz geeignet, mich davon zu überzeugen, daß ein Fluchtgedanke Wahnsinn gewesen wäre. Ich hatte zwar von den indianischen Pueblos gelesen, aber noch keines gesehen. Sie sind zum Zwecke der Verteidigung errichtet, und ihre Bauart, so eigenartig sie ist, entspricht dieser Bestimmung auf das allerbeste.
Sie füllen gewöhnlich tiefe Felsenlücken aus, bestehen durchweg aus festem Stein- und Mauerwerk und setzen sich aus einzelnen Stockwerken zusammen, deren Zahl sich nach der Örtlichkeit richtet. Jedes höhere Stockwerk tritt ein Stück zurück, so daß vor ihm eine Plattform liegt, welche von der Decke des darunterliegenden Stockes gebildet wird. Das Ganze gewährt den Anblick einer Stufenpyramide, deren Etagen sich je höher desto mehr und tiefer in die Felsenlücke hineinziehen. Das Parterre steht also am weitesten vor und ist am breitesten, während die folgenden Etagen immer schmäler werden. Diese Stockwerke sind nicht etwa, wie bei unseren Häusern, in ihrem Innern durch Treppen verbunden, sondern man gelangt zu ihnen nur von außen mittels Leitern, welche angelegt und wieder weggenommen werden können. Rückt ein Feind heran, so werden diese Leitern entfernt, und er kann nicht herauf, außer er hätte Leitern mitgebracht; aber auch in diesem Falle müßte er jede Etage einzeln erstürmen und sich den Geschossen der auf den oberen Plattformen stehenden Verteidiger aussetzen, während diese vor seinen Waffen vollständig sicher sind.
Auf einem solchen Pyramidenpueblo befand ich mich, und zwar, wie ich jetzt gesehen hatte, auf dem achten oder neunten Stockwerk derselben. Wie konnte man da fliehend herunterkommen, da sich auf allen unter mir liegenden Plattformen Indianer befanden! Nein, ich mußte bleiben. Ich warf mich also auf mein Lager und wartete.
Das waren schlimme, beinahe unerträgliche Stunden: die Zeit rückte mit wahrer Schneckenlangsamkeit vor, und es wurde fast Mittag, ohne daß etwas eintrat, was die Vorhersage der Indianerin bestätigte. Da, endlich hörte ich draußen die nahenden Schritte mehrerer Personen. Winnetou kam herein, gefolgt von fünf Apachen. Ich blieb, mich ganz unbefangen stellend, liegen. Er ließ einen langen, forschenden Blick über mich gleiten und sagte dann:
„Old Shatterhand mag mir mitteilen, ob er jetzt wieder gesund ist!“
„Noch nicht ganz“, antwortete ich.
„Aber sprechen kannst du, wie ich höre?“
„Ja.“
„Und laufen auch?“
„Ich denke es.“
„Hast du das Schwimmen gelernt?“
„Ein wenig.“
„Das ist gut, denn du wirst schwimmen müssen. Weist du noch, an welchem Tage du mich wiedersehen solltest?“
„An meinem Todestage.“
„Du hast es dir gemerkt. Dieser Tag ist heute da. Steh auf; du sollst gefesselt werden.“
Es wäre Unsinn gewesen, dieser Aufforderung nicht Folge zu leisten. Ich hatte sechs Rote gegen mich, denen es nicht schwer werden konnte, mich mit Gewalt aufzurichten. Ich hätte zwar einige von ihnen niederschlagen können, aber dadurch nichts erreicht, als daß das Verhalten der anderen dadurch gegen mich verschärft worden wäre. Ich erhob mich also von dem Lager und hielt ihnen meine Hände hin; sie wurden zusammengebunden, und dann bekam ich zwei Riemen so an die Füße, daß ich zwar langsam gehen oder auch steigen, aber nicht in weiten, schnellen Sätzen entspringen konnte. Dann schaffte man mich hinaus auf die Plattform.
Von hier führte eine Leiter nach der nächst unteren Etage; es war nicht eine Leiter nach unserem Begriffe, sondern ein starker Holzpfahl, in welchen tiefe Kerben eingeschnitten waren, die als Stufen dienten. Drei Rote stiegen hinab, hierauf mußte ich folgen, was trotz der Fesseln keine Schwierigkeit bot, und dann folgten die beiden andern. In dieser Weise ging es von Stockwerk zu Stockwerk, immer weiter hinab. Auf allen Plattformen standen Weiber und Kinder, welche mich neugierig, aber still betrachteten und dann hinter uns herkamen. Sie zählten, als wir nach dem untersten Stockwerk den Boden erreichten, einige Hundert und bildeten auch weiterhin unser Gefolge, das Publikum, welches das Schauspiel unseres Todes genießen wollte.
Es war so, wie ich gedacht hatte; das Pueblo lag in einem schmalen Seitentale, welches bald auf das breite Tal des Rio Pecos mündete. Nach diesem letzteren wurde ich geführt. Der Pecos ist überhaupt kein
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