01 - Winnetou I
Tod immer näher rücke. Später bemerkte ich, daß ihr Auge, wenn sie sich unbeachtet glaubte, mit einem wehmütigen, still fragenden Blick auf mir ruhte. Es schien, daß sie begann, mich zu bedauern. Ich hatte ihr also unrecht getan, als ich annahm, daß sie kein Herz besitze. Ich fragte sie, ob es mir erlaubt sei, meinen Kerker, dessen Tür stets offenstand, zu verlassen; sie verneinte dies und teilte mir mit, daß Tag und Nacht, ohne von mir bemerkt worden zu sein, zwei Wächter vor der Tür gesessen hätten und mich ferner bewachen würden. Ich hatte es nur meiner Schwäche zu verdanken, daß ich nicht gefesselt worden war, und sie glaubte, daß man mir nun bald Riemen anlegen werde.
Das forderte mich zur Vorsicht auf. Ich verließ mich zwar auf die Haarlocke, aber es war doch vielleicht möglich, daß sie die beabsichtigte Wirkung verfehlte; dann konnte ich mich nur auf mich selbst verlassen; auf mich und meine Körperstärke, und diese Kraft mußte ich üben. Aber wie?
Ich lag nur, wenn ich schlief, auf den Bärenfellen; sonst saß ich auf oder ging im Raum auf und ab. Ich sagte Nscho-tschi, daß ich das niedrige Sitzen nicht gewöhnt sei, und fragte sie, ob nicht ein Stein zu bekommen sei, der mir als Sitz dienen könne. Dieser Wunsch wurde Winnetou vorgetragen, und er schickte mir mehrere von verschiedener Größe; der schwerste konnte etwas über einen Zentner wiegen. Mit diesen Steinen übte ich mich, sooft ich allein war. Gegen meine Pflegerinnen simulierte ich noch Schwäche; in Wirklichkeit aber wurde es mir schon nach vierzehn Tagen nicht mehr schwer, den großen Stein viermal nacheinander emporzuheben. Das verbesserte sich noch weiter, und als die dritte Woche vergangen war, wußte ich, daß ich meine frühere Körperkraft vollständig wiederhatte.
Ich war nun sechs Wochen hier und hatte nicht gehört, daß die gefangenen Kiowas entlassen worden seien. Das war eine Leistung, gegen zweihundert Mann so lange zu ernähren! Jedenfalls aber hatten die Kiowas dafür zu zahlen. Je länger sie blieben, ohne auf die Vorschläge der Apachen einzugehen, desto bedeutender wurde natürlich das Lösegeld.
Da, es war an einem schönen, sonnigen Spätherbstmorgen, brachte Nscho-tschi mir mein Frühessen und setzte sich, während ich aß, bei mir nieder, während sie sich in der letzten Zeit sofort entfernt hatte. Ihr Auge blieb weich und mit einem feuchten Schimmer auf mir haften, und endlich rollte ihr gar ein Tränentropfen über die Wange herab.
„Du weinst?“ fragte ich. „Was ist geschehen, das dich so betrübt?“
„Es soll erst geschehen, heute.“
„Was?“
„Die Kiowas werden frei und ziehen fort. Ihre Boten sind in dieser Nacht unten am Fluß angekommen mit all den Gegenständen, die sie uns bezahlen müssen.“
„Und das betrübt dich so? Du müßtest doch eigentlich Freude darüber haben!“
„Du weißt nicht, was du sprichst, und ahnst nicht, was dir bevorsteht. Der Abschied der Kiowas soll dadurch gefeiert werden, daß man dich und deine drei weißen Brüder an die Marterpfähle bindet.“
Ich hatte das schon lange kommen sehen und erschrak doch, als ich es hörte. Also heut war der Tag der Entscheidung, vielleicht mein letzter Tag! Was würde er mir gebracht haben, wenn er sich am Abend zur Rüste neigte? Ich heuchelte Gleichgültigkeit und aß, scheinbar ruhig, weiter; als ich fertig war, gab ich ihr das Gefäß. Sie nahm es, stand auf und ging. Unter dem Eingang drehte sie sich um, kam noch einmal auf mich zu, reichte mir die Hand und sagte, ihre Tränen nicht länger zurückhaltend:
„Ich kann jetzt zum letztenmal zu dir sprechen. Leb wohl! Du wirst Old Shatterhand genannt und bist ein starker Krieger. Sei auch stark, wenn sie dich martern! Nscho-tschi ist sehr betrübt über deinen Tod; aber sie würde sich sehr freuen, wenn keine Qual es vermöchte, dir einen Laut des Schmerzes und der Klage zu entlocken. Mach mir diese Freude, und stirb als ein Held!“
Nach dieser Bitte eilte sie hinaus. Ich trat an den Eingang, um ihr nachzublicken; da wurden die Läufe zweier Gewehre auf mich gerichtet; die beiden Wächter taten ihre Pflicht. Hätte ich einen Schritt hinaus getan, so wäre ich sicher erschossen oder absichtlich so verwundet worden, daß ich nicht weiterkonnte. An eine Flucht war nicht zu denken, die überhaupt mißlingen mußte, weil ich die Örtlichkeit nicht kannte. Ich zog mich also schnell in mein Gefängnis zurück.
Was sollte ich tun? Das beste war jedenfalls, das
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