01 - Winnetou I
Sie saßen still, und ihren geübten Ohren konnte kein Geräusch entgehen; ich mußte also eine ungewöhnliche Vorsicht entfalten. Es gelang mir besser, als ich es für möglich gehalten hatte. Ich sah die beiden. Sie saßen eng nebeneinander mitten in einem wilden Pflaumengebüsch, mit dem Rücken nach mir, da sie mich, falls ich ja kommen würde, von der entgegengesetzten Seite erwarten mußten. Sie sprachen miteinander, aber flüsternd, so daß ich ihre Worte nicht verstehen konnte.
Ich freute mich ungemein auf die Überraschung und schob mich immer weiter zu ihnen hinan. Jetzt war ich so nahe, daß ich beide mit der Hand erreichen konnte. Schon wollte ich den Arm ausstrecken und Winnetou von hinten fassen, da wurde ich durch ein Wort, welches er sagte, abgehalten, dies zu tun.
„Soll ich ihn holen?“ fragte er flüsternd.
„Nein“, antwortete Nscho-tschi. „Er kommt selbst.“
„Er kommt nicht.“
„Er kommt!“
„Meine Schwester irrt sich. Er hat alles sehr schnell gelernt; aber deine Spur geht durch die Luft. Wie will er sie finden?“
„Er findet sie. Mein Bruder Winnetou hat mir gesagt, daß Old Shatterhand schon jetzt nicht mehr irre zu führen sei. Warum spricht er jetzt das Gegenteil?“
„Weil es heut die schwierigste Aufgabe ist, die es geben kann. Sein Auge wird jede Fährte finden; die deinige ist aber nur mit den Gedanken zu lesen, und das hat er noch nicht gelernt.“
„Er wird dennoch kommen, denn er kann alles, alles, was er will.“
Sie flüsterte diese Worte nur, dennoch war ihrem Ton eine Zuversicht, ein Vertrauen anzuhören, daß ich darauf hätte stolz sein können.
„Ja, ich habe noch keinen Mann gekannt, der sich so leicht in alles findet. Es gibt nur eins, worein er sich nicht finden wird, und dies tut Winnetou sehr leid.“
„Was ist das?“
„Der Wunsch, den wir alle haben.“
Eben jetzt hatte ich mich ihnen bemerkbar machen wollen; da sprach Winnetou von einem Wunsch; das bestimmte mich, noch zu warten. Welchen Wunsch hätte ich diesen lieben, guten Menschen nicht gern erfüllt! Sie hegten einen und sagten ihn mir nicht, weil sie glaubten, daß ich ihn nicht erfüllen werde. Vielleicht hörte ich jetzt, was für einer es war. Darum schwieg ich noch und lauschte.
„Hat mein Bruder Winnetou schon mit ihm darüber gesprochen?“ fragte Nscho-tschi.
„Nein“, antwortete Winnetou.
„Und Intschu tschuna, unser Vater, auch noch nicht?“
„Nein. Er wollte es ihm sagen, aber ich gab es nicht zu.“
„Nicht? Warum? Nscho-tschi liebt dieses Bleichgesicht sehr; sie ist die Tochter des obersten Häuptlings aller Apachen!“
„Das ist sie, und sie ist noch mehr, noch weit mehr. Jeder rote Krieger und jedes Bleichgesicht würde glücklich sein, wenn meine Schwester seine Squaw werden wollte, nur Old Shatterhand nicht.“
„Wie kann mein Bruder Winnetou dies wissen, da er noch nicht mit ihm darüber gesprochen hat?“
„Ich weiß es trotzdem, denn ich kenne ihn. Er ist nicht wie andere Weiße; er trachtet nach Höherem als sie. Er nimmt keine Indianerin zur Squaw.“
„Hat er dies gesagt?“
„Nein.“
„Gehört sein Herz vielleicht einer Weißen?“
„Auch nicht.“
„Das weißt du sicher?“
„Ja. Wir sprachen von weißen Frauen, und da habe ich aus seinen Worten entnommen, daß sein Herz noch nicht gesprochen hat.“
„So wird es bei mir sprechen!“
„Meine Schwester mag sich nicht täuschen! Old Shatterhand denkt und empfindet anders, als du meinst. Wenn er sich eine Squaw erwählt, so muß sie unter den Frauen das sein, was er unter den Männern ist.“
„Bin ich das nicht?“
„Unter den roten Mädchen, ja; da kommt meiner schönen Schwester keines gleich. Aber was hast du gelernt? Du kennst das Frauenleben der roten Völker, aber nichts von dem, was eine weiße Squaw gelernt haben und wissen muß. Old Shatterhand sieht nicht auf den Glanz des Goldes und auf die Schönheit des Angesichtes; er trachtet nach andern Dingen, die er bei einem roten Mädchen nicht finden kann.“
Sie senkte den Kopf und schwieg. Da strich er ihr mit der Hand liebkosend über die Wange und sagte:
„Es schmerzt mich, daß ich dem Herzen meiner guten Schwester weh tue. Aber Winnetou ist gewöhnt, stets die Wahrheit zu sagen, auch wenn sie keine frohe ist. Vielleicht kennt er einen Weg, auf welchem Nscho-tschi zu dem Ziel, nach welchem sie strebt, gelangen kann.“
Da hob sie rasch den Kopf wieder und fragte:
„Welcher Weg ist dies?“
„Der nach den
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