Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition)
Der Weihnachtsverrat
Leutnant Victor Narraway ging in der kühlen Abendluft über den Kasernenhof. Es war Mitte Dezember, kurz vor Weihnachten. Zu Hause in England schneite es vielleicht schon, aber hier in Indien würde es nicht einmal Frost geben. In Kanpur hatte noch nie jemand Schnee zu sehen bekommen. In einem anderen Jahr hätte das eine wundervolle Zeit sein können: mit Feiern, glücklichen Erinnerungen an die Vergangenheit, Optimismus für die Zukunft, vielleicht auch mit etwas Sehnsucht nach den Lieben in der Ferne.
Aber das Jahr 1857 war anders. Die Unruhen des Aufstands hatten verbrannte Erde und Trauer zurückgelassen.
Er erreichte die Außentür des Kasernengebäudes, das am wenigsten beschädigt worden war, und klopfte. Sie wurde umgehend geöffnet, und er trat ein. Öllampen verbreiteten ein warmes gelbliches Licht, das die Einschusslöcher an den Wänden und die wenigen Überbleibsel der einstmals sicheren Behausung beleuchtete. Sicher – das war sie vor der Belagerung und deren Aufhebung vor ein paar Monaten gewesen. Jetzt gab es kaum noch ein unbeschädigtes Möbelstück: ein Schreibtisch mit Geschossspuren, drei Stühle, die auch schon bessere Zeiten gesehen hatten, ein Bücherregal und mehrere Schränke, einem fehlte eine Türhälfte.
Oberst Latimer war groß und schlank, ein Mann in den Vierzigern. Viele indische Sommer hatten seine Haut braun gebrannt, aber darunter schien wenig Leben zu sein, das dem Überdruss und den Zeichen der Erschöpfung hätte trotzen können. Er blickte den zwanzigjährigen Leutnant vor sich entschuldigend an.
»Ich habe eine unangenehme Aufgabe für Sie, Narraway«, sagte er leise. »Sie muss erledigt werden, und zwar gut. Sie sind neu hier im Regiment, aber Sie haben einen ausgezeichneten Ruf. Für diese Aufgabe sind Sie genau der Richtige.«
Narraway fröstelte trotz der milden Temperaturen. Sein Vater hatte eine Ernennungsurkunde für die Armee für ihn erworben, und nachdem er eine kurze Ausbildung in England absolviert hatte, wurde er nach Indien geschickt. Vor einem Jahr war er hier angekommen, im Januar, kurz vor dem verhängnisvollen Vorfall mit den Gewehrpatronen in der Stadt Dum Dum, der im darauffolgenden Frühjahr die Meuterei ausgelöst hatte. Es war das Gerücht aufgekommen, dass die Patronen an der Stelle mit Tierfett behandelt worden waren, an der sie zum Entschärfen mit den Zähnen abgerissen werden mussten. Den Hindus hatte man gesagt, das Fett sei Rindertalg. Kühe aber waren heilig, und sie zu töten kam einer Gotteslästerung gleich. Kamen die Lippen mit dem Fett in Berührung, war man verdammt. Den Muslimen wurde gesagt, es sei Schweinefett, aber das Schwein war ein unreines Tier. Dieses Fett an die Lippen zu bringen, bedeutete ebenfalls Verdammnis, wenn auch aus einem ganz anderen Grund.
Natürlich war das nicht die eigentliche Ursache für den Aufstand Hunderttausender Inder gegen die Herrschaft einiger Tausend Engländer, die bei der Ostindien-Kompanie dienten. Die wahren Ursachen waren weit komplexer: Sie wurzelten in den sozialen Ungerechtigkeiten und den Verstößen der Fremdherrschaft gegen die Kultur der Inder. Die Geschichte mit den Patronen war nur der Auslöser für die Unruhen.
Soweit Narraway wusste, war es nicht überall zu Meutereien gekommen. Nur in kleinen Teilen des Lands hatten sie gewalttätige Ausmaße angenommen. Ganze Landstriche waren gar nicht betroffen und lagen friedlich unter der Wintersonne, auch wenn die Menschen dort besorgt waren.
Die Provinz Sindh und die Ebene von Hindustan waren am stärksten betroffen, besonders Lakhnau und Kanpur.
General Sir Colin Campbell, ein Held des erst kürzlich beendeten Krimkriegs, hatte gekämpft, um die Belagerung von Lakhnau zu durchbrechen. Eine Woche zuvor hatte er 25 000 Aufständische hier in Kanpur besiegt. War das der Anfang einer Wende? Oder nur ein Hoffnungsschimmer?
Narraway stand stramm und atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Warum hatte ihn Latimer herbeordert?
»Ja, Sir«, stieß er durch seine zusammengebissenen Zähne hervor.
Latimer lächelte düster. Er sah nicht gerade glücklich aus und zeigte auch keinerlei Anerkennung. »Sie haben sicherlich von der Flucht des Gefangenen Dhuleep Singh gehört?«, fuhr er fort. »Und davon, dass der Wachposten Chuttur Singh dabei erschlagen wurde?«
Narraways Mund war ganz trocken. Natürlich wusste er das, jeder auf dem Stützpunkt in Kanpur wusste davon.
»Ja, Sir«, presste er gehorsam hervor.
»Wir
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