0105 - Rückkehr aus dem Geistergrab
untersuchte er den Findling genauer, weil die Form des Steines den Verdacht nahelegte, er sei irgendwann bearbeitet worden.
Zamorra stellte fest, daß seine Vermutung zutraf. Er zündete ein Streichholz an, weil seine tastenden Finger Vertiefungen und Rillen entdeckt hatten, die sehr wohl Schriftzüge sein konnten. Mühsam entzifferte er die Buchstaben: Michele Utraux! Der Name des Scharfrichters von Mazamet!
Zamorra packte sein Amulett mit beiden Händen. Der wertvolle Reif erwies seine Wunderkraft. Ein überirdisches hellblaues Leuchten ging von ihm aus. Er machte verborgene Dinge sichtbar, bewegte das Unbewegliche und enthüllte das Geheimnis wie ein Röntgenapparat.
Gebannt starrte Zamorra auf das Bild, das sich seinen Blicken bot: ein Mann lag auf dem Rücken, gut zwei Meter unter der Erde. Ohne Sarg bestattet, aber in seinem Henkerkittel, einem schwarzen Trikot. Die Hände waren natürlich nicht gefaltet. Sondern ruhten auf einem sogenannten Beidhänder, einem Richtschwert, das niemals mit einer Hand allein geschwungen werden konnte.
Irgendeine Kraft hatte bewirkt, daß Fleisch nicht verfault, Gebein nicht verrottet war. Naturwissenschaftler hätten zunächst Erdproben entnommen und analysiert. Dieses Phänomen trat häufiger auf, als man gemeinhin annahm.
Der Scharfrichter von Mazamet lag in seiner ganzen finsteren Schrecklichkeit im Grab, als schliefe er nur. Warte darauf, daß eine dämonische Kraft ihn wiederbelebe. Ihn auferstehen ließ. Damit er seinem blutigen Gewerbe nachgehen könne. Fast schien es, als spiele ein grausames Lächeln um die eingefallenen Züge. Die Haut war verdorrt und brüchig wie altes vergilbtes Pergament. Nur die Augen strahlten in einem höllischen Feuer. Oder reflektierten die Pupillen nur das Licht, vom Amulett in die Finsternis gebracht, um das Verborgene zu zeigen, das Versteckte aufzuspüren, das Gefährliche zu bannen?
Zamorra fand, er habe für eine Nacht genügend Abenteuer bestanden. Er mußte erst einmal seine Lehren ziehen aus dem, was er gesehen hatte. Er mußte sich darauf einstellen, einen ebenbürtigen Gegner gefunden zu haben. Noch dazu einen, der im Dunkel der Anonymität operierte. Sehr wirkungsvoll übrigens, wie Zamorra neidlos anerkennen mußte. Schwächere Charaktere mußten dem Unbekannten im ersten Anlauf zum Opfer fallen. Unerfahrene sofort auf der Strecke bleiben.
Es gehörte schon die Erfahrung eines jahrelangen Studiums dazu, die Phänomene und Erscheinungen richtig einzuordnen. Ihren Urheber zu ermitteln.
Wobei es nicht zuletzt, nach schönster kriminalistischer Manier, auch darum ging, das Motiv herauszufinden. Warum gab sich jemand die Mühe, den Scharfrichter von Mazamet dem Vergessenen und der Vergangenheit zu entreißen? Handelte es sich um jemanden, der Gefallen daran fand, andere zu ängstigen, in Verwirrung zu stürzen?
Zamorra wußte es nicht. Er wußte nur eins: hier, in der Einsamkeit der Hochebene, würde er des Rätsels Lösung nicht finden. Er mußte hinunter ins Dorf. Seine Einwohner unter die Lupe nehmen. Sich umhören.
Und außerdem Nicole empfangen.
Zamorra spürte plötzlich Angst siedendheiß aufsteigen. Er fürchtete um Nicole. Vielleicht hatte der erste Schlag des unbekannten Magiers gar nicht dem Professor gegolten, sondern seiner hübschen Sekretärin?
***
»Au Relais«, der Dorfkrug von Mazamet, leerte sich zusehends. Der Wirt hatte die Jalousie an der Theke heruntergelassen wie ein Fallbeil, zum Zeichen, daß er weit nach Mitternacht endlich zur Ruhe kommen wollte. Die Gäste tranken ihren letzten Aperitif oder Rotwein aus und machten sich auf den Heimweg. Es waren meist ältere Männer, die sich dem einzigen Vergnügen gewidmet hatten, das der Weiler zu bieten hatte: trinken und schwatzen im »Au Relais«.
Es war ein Vorrecht nur der Männer, den Schankraum aufzusuchen. Die Frauen luden sich allenfalls gegenseitig und reihum zum Kaffeeklatsch ein. Zeigten sich Fotos ihrer Kinder und trauerten den alten Zeiten zwischen den Weltkriegen nach, als Mazamet noch ein blühendes Dorf voller Leben gewesen war.
Jetzt sah es hier nicht anders aus als etwa auf Sizilien. Die Jungen flohen das flache Land und zogen in die großen Städte, um dort ihr Glück zu machen. Die Alten blieben zurück, pflegten ihre Erinnerungen, warteten auf Post und Nachricht aus der Fremde, verglichen die ziemlich unterschiedlichen Leistungen ihrer Sprößlinge und ahnten nur undeutlich, was eine moderne Leistungsgesellschaft war. Sie selbst
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