011 - Sanatorium der Toten
ist, Louise. Ihr Haus
liegt in unmittelbarer Nachbarschaft meines Grundstücks, und da dachte ich…«
Die Greisin
verzog ihr Gesicht, daß es aussah wie zerknittertes Pergament. »Was sollte mir
aufgefallen sein, Monsieur Gourmon?«
Der
Angesprochene biß sich auf die Lippen. Man merkte, wie schwer es ihm fiel zu
sprechen. »Meine Tochter ist gestern plötzlich krank geworden. Man hat sie in
die Klinik von Professor Mineau eingeliefert. Aber es scheint, als ob dieser
Sache etwas vorausging. Sie sind morgens schon früh auf den Beinen und…«
»Ich habe
nichts bemerkt, Monsieur Gourmon. Aber von Claude, meinem Schwager, habe ich
etwas gehört.«
»Was, Louise?«
»Er macht um
diese Jahreszeit immer sehr frühe Spaziergänge. Er streift durch die Wiesen und
Wälder, er ist ein richtiger Naturnarr.«
»Ich weiß,
Louise. Was hat er gesehen?«
Sie sah ihn
mit einem seltsamen Blick an. »Claude hat Ihre Tochter gesehen, wie sie aus dem
Haus rannte. Sie trug kaum etwas auf dem Körper, war nur mit einem sehr dünnen
Nachtgewand bekleidet. Sie lief auf der Straße entlang, kehrte dann um und
wurde von einem Krankenwagen aufgenommen. Die Pfleger brachten sie ins Haus
zurück.«
»Ja, ja so
war es. Aber das ist nicht das, was ich erwartet habe. Sonst, Louise, sonst ist
Claude nichts aufgefallen?«
Die zuckte
die Achseln, stülpte ihre Lippen nach vorn und schüttelte den Kopf. »Nein,
sonst nichts, außer, daß er das sehr merkwürdig fand.«
»Schon gut,
Louise. Es ist merkwürdig, ja. Es scheint, daß meine Tochter den Verstand
verloren hat. Vielleicht komme ich heute noch einmal rein, ich möchte Claude
persönlich sprechen, wenn das möglich ist.«
»Es wird
möglich sein, Monsieur Gourmon. Er ist wieder unterwegs. Aber zum Mittagessen
sitzt er pünktlich am Tisch.«
»Au revoir,
Louise.«
»Au revoir,
Monsieur Gourmon.«
Er ging,
nachdem er Larry noch einmal einen musternden, fragenden Blick zugeworfen
hatte. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß.
»Armer Kerl«,
murmelte Louise, und sie wischte mit dem Rockzipfel über ihr Gesicht.
»Seine
Tochter ist verrückt geworden. Dinge passieren hier, es ist nicht zu fassen…«
Zehn Minuten
später verließ auch Larry die Pension. Gedankenversunken fuhr er nach Niort
zurück. Er mußte sich noch einmal Yvonne Basacs Zimmer ansehen. Vielleicht fand
er einen Hinweis, der ihm weiterhalf.
Als er in die
Straße einbog, in der das Chatte Noire stand, registrierte er verwundert den
Menschenauflauf vor dem Lokal. Ein Polizeiwagen war vorgefahren, ein
Krankenwagen startete gerade. Larry mußte sich einen Weg durch den Kreis der
Neugierigen bahnen, die auf dem Bürgersteig standen. Mama Marleaux stand mit
Lockenwicklern im Haar und in Tränen aufgelöst im Korridor. Ihre Kätzchen
standen hinter ihr, nur mit dünnen Morgenmänteln und raffinierten Negligés
bekleidet. Larry gelang es, in den Hauseingang zu kommen, während einige
Polizisten ihre Aufmerksamkeit den nachdrängenden Bürgern schenkten, die den
Bürgersteig belagerten.
»Was ist
geschehen, Mama Marleaux?« Larry wußte nicht, wie er diese Situation deuten
sollte.
Sie sah auf.
Ihre bläulichen Augen waren trübe und gerötet. Lautstark schneuzte sie sich.
»Ah, Monsieur
Brenton«, sie erkannte ihn sofort wieder. Gutzahlende Kunden vergaß sie so
schnell nicht. »Yvonne Basac, Sie kennen sie doch, nicht wahr?«
»Ja.«
»Sie ist
wahnsinnig geworden. Man hat sie eben abtransportiert, in das Privatsanatorium
von Professor Mineau. Es ist schrecklich. Ich habe sie schreien gehört. Sie
tobte wie eine Verrückte in ihrem Zimmer herum, schlug alles kurz und klein.
Sie hat sogar Hand an sich selbst angelegt, es ist wie ein Wunder, daß sie sich
nicht umgebracht hat. Ich habe sofort die Polizei verständigt und das
Sanatorium. Zum Glück kam man recht schnell. Der Kopf, sie sprach immer wieder
von einem Kopf, den die Guillotine abgeschlagen hätte, und der im Türkreuz der
Zwischentür gehangen hätte. Ah, wie furchtbar ist das alles…«
Larry war wie
vor den Kopf geschlagen! Yvonne Basac war vor wenigen Minuten von hier
abtransportiert worden? Aber das bedeutete, daß sie in ihrem Zimmer gewesen
sein mußte.
Doch er hätte
schwören können, daß sie letzte Nacht in einem schwarzen Citroen weggefahren
war. Freiwillig oder durch Zwang, das blieb dahingestellt. Er kam nicht mehr
dazu, Mama Marleaux etwas zu fragen. Ein Polizist und ein hochgewachsener,
schlanker Mann in einem leichten Sommeranzug kamen durch
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