0110 - Auf den Spuren der Antis
sagt die Frau sanft. Der Mann bewegt sich nicht. Sein Blick ist in die Ferne gerichtet. Seine Augen sind ohne Glanz. Es ist keine Trauer in diesem Gesicht, kein Schmerz, kein Leid -es ist völlig gefühllos.
Die Schwester beugt sich hinab und zieht den Mann langsam am Arm empor. Mit steifen Bewegungen folgt der Patient dem Druck ihrer Hände. „Schon vorsichtig", lächelt die Frau. Sie weiß, daß die Bedeutung ihrer Worte nicht verstanden wird. Alle Patienten in diesem Raum verstehen sie nicht.
Manchmal glaubt die Frau, in einem Saal mit Toten zu sein.
Der Mann steht jetzt am Rande seines Bettes. Er scheint seine Umgebung nicht wahrzunehmen. Die Schwester führt ihn den langen Gang hinunter. Von keinem Bett folgt ihr ein fröhlicher Ruf, kein Kopf bewegt sich in ihrer Richtung. „Es wird ein schöner Tag", sagt die Schwester.
Sie erreicht den Flur und steuert ihren stummen Begleiter behutsam zum Aufzug. Etwas später gelangt sie mit ihm in den großen Park, der die Heilanstalt umgibt. In den Bäumen zwitschern Vögel. Auf den Bänken sitzen Männer und Frauen. Schwestern sind bei ihnen. Alle Patienten haben den gleichen, entsetzlich leeren Blick. Starr hocken sie da, wie Puppen. „Dort hinüber", sagt die Schwester. Willig folgt ihr der Mann. Er weiß nichts mehr von dieser Welt.
Vielleicht ist sie überhaupt nicht existent für ihn. Er und seine Leidensgenossen vegetieren dahin wie Schatten.
Sie sind Opfer des Liquitivs. Sie sind geistig umnachtet und wohl rettungslos verloren.
Eine halbe Stunde spaziert die Schwester mit dem Patienten durch den Park. Dann geht sie zurück. Alle Kranken müssen ausgeführt werden. Die Ärzte bestehen darauf, obwohl die Schwester nicht glaubt, daß es Sinn hat. Sie weiß, daß dieser Zustand anhält, bis die Kranken sterben. Und sie sterben schnell. Sie gehen ohne Kampf aus dem Dasein. „War das nicht ein schöner Spaziergang?" fragt die Schwester.
Sie erhält keine Antwort. Sie wird nie eine erhalten. Aber sie muß ab und zu etwas reden, wenn sie nicht selbst wahnsinnig werden will. Es ist ihr Beruf, geisteskranken Menschen zu helfen, aber manchmal fragt sie sich bei diesen Patienten nach dem Sinn ihres Tuns.
Der erste Spaziergang an diesem Morgen ist beendet. Die Schwester bringt den Patienten zurück in diesen Saal der lebenden Toten. Beide gehen an der langen Reihe von Betten entlang.
Es ist still. Nur von draußen hört man ganz schwach das Zwitschern der Vögel. Inzwischen haben Helferinnen das Bett des Kranken gerichtet.
Am Kopfende hängt ein kleines Schild. Mit schwarzen Buchstaben steht dort der Name des Mannes geschrieben; ein Name, den er selbst nicht mehr lesen kann.
Der Blick der Schwester gleitet darüber hinweg. Weder für sie noch für den Kranken haben die beiden Worte eine Bedeutung. Ein Schicksal ist damit verbunden, gewiß, aber jetzt ist der Name nur noch für die Karteien der Heilanstalt wichtig.
Namen? Nur unbewußt nimmt die Schwester deshalb die beiden Worte in sich auf. Auf dem Schild an diesem Bett steht HENRY MULVANEY.
ENDE
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