0110 - Zargos, der Dämon
Zehenspitzen lief ich durch den Vorgarten und achtete darauf, gegen keinen Blumentopf zu stoßen und auf keine herumliegende Harke zu treten.
Geräuschlos erreichte ich das Fenster, stellte mich auf das Gitter eines Kellerfensters und schob mich hoch, bis der Spalt in der Jalousie in Augenhöhe war.
Richtig, ich sah das Wohnzimmer des Cunningschen Hauses.
Und ich sah eine mehr als leicht bekleidete, bildschöne junge Frau, die in den Armen eines schwarzhaarigen Mannes lag, der nur eine Hose trug. Beide hielten Sektgläser in den Händen, wiegten sich zu Musik aus dem Radio und tauschten leidenschaftliche Küsse.
Ich konnte mir schwer vorstellen, daß sich in diesem Haus eine andere Frau als Mrs. Cunning aufhielt. Wenn sie es aber war, sah sie nicht wie eine trauernde Witwe aus. Zumindest nicht so, wie ich mir eine trauernde Witwe vorstellte!
Das mußte ich mir näher ansehen.
Ich probierte mein Glück an der Vordertür, doch die war abgeschlossen. Die Hintertür hingegen ließ sich lautlos öffnen. Ich huschte in die Küche, erreichte die Diele und blieb vor der Wohnzimmertür stehen.
Von drinnen hörte ich Lachen, Gläserklingen, einschmeichelnde Melodien und Klirren.
»Du bist heute wieder leidenschaftlich!« rief die Frau. »Jetzt hast du sogar mein Glas kaputt gemacht!«
Ich konnte nicht verstehen, was der Mann antwortete, doch ihr nächster Satz brachte Licht in die Angelegenheit.
»Nicht so stürmisch, Darling! Jetzt, wo mein Mann uns nicht mehr stört, haben wir immer Zeit füreinander! Und daß er uns nicht mehr stört, dafür habe ich gesorgt!«
Das genügte.
Mit einem harten Ruck stieß ich die Tür auf und trat ein.
***
Normalerweise genoß es Suko, auf seiner Harley Davidson zu fahren.
In dieser Nacht jedoch war mit Genuß nicht viel zu machen. Der Nebel war so dicht, daß er die schwere Maschine nur im niedrigen Gang rollen lassen konnte, wollte er nicht an der nächsten Hauswand landen.
Er erreichte das Krankenhaus in der Marloes Road in einer negativen Rekordzeit, das heißt, er hatte noch nie so lange für eine so kurze Strecke gebraucht. Das Motorrad stellte er auf den Parkplatz, nahm den Sturzhelm ab und stapfte auf den Eingang zu.
Die farbige Schwester an der Aufnahme riß die Augen auf, als Suko eintrat. Ängstlich verkroch sie sich tiefer in ihrem Stuhl. Wahrscheinlich hielt sie Suko für einen jener Rocker, die gelegentlich nachts über Pförtner oder andere allein arbeitende Menschen herfielen, um sie zu terrorisieren. Erst als er ihr beruhigend zulächelte, entspannte sie sich ein wenig.
Er erklärte der Schwester, wer er war und worum es ging. Sie hielt bei den Polizisten, die vor dem Krankenzimmer Wache schoben, Rückfrage und bekam die Bestätigung, daß Suko nach oben durfte.
Ehe er sich auf den Weg machte, fiel sein Blick auf eine sehr hübsche Goldkette am Hals der Schwester. Es handelte sich dabei offenbar um Modeschmuck, zusammengesetzt aus einzelnen zylindrischen Gliedern, abwechselnd Weiß-, Gelb- und Rotgoldimitation. Suko dachte noch, daß er Shao eine solche Kette schenken könnte. Auf dem Weg zum Aufzug nahm er sich vor, die Schwester danach zu fragen, woher die Kette stammte. Sie war bestimmt noch hier, wenn er wieder herunterkam.
Da sich die Türen des Aufzugs sehr schnell schlossen, sah er nicht mehr, wie die Krankenschwester hinter dem Pult der Aufnahme hervorglitt, nachdem sie aus einem Schubfach ein Skalpell genommen hatte. Er wußte auch nicht, daß dieses Skalpell dort lag, damit sich die Nachtdienstler schützen konnten, wenn es wirklich einmal Schwierigkeiten mit einem randalierenden Eindringling gab.
Völlig ahnungslos verließ Suko den Aufzug und nickte den Polizisten zu. Sie schienen ihn zu kennen, da sie ihn anstandslos passieren ließen.
Er betrat das Krankenzimmer, in dem nur ein Bett stand. Der Taxifahrer schlief nicht. Im Schein einer stark gedämpften Wandlampe betrachtete er Suko.
»Wer sind Sie?« fragte er und drückte sich ängstlich in die Kissen.
»Ein guter Freund des Mannes, den Sie heute umbringen wollten«, erwiderte Suko.
Die Augen des Mannes wurden groß. »Umbringen? Spinnen Sie?«
Suko zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. »Nein, Mr. Lavender, ich spinne nicht! Wie geht es Ihnen übrigens? Wurden Sie ernstlich verletzt?«
Randolph Lavender schüttelte verwirrt den Kopf. Er wurde aus dem Verhalten des Chinesen nicht schlau. »Na, es geht. Leichte Gehirnerschütterung, haben die Ärzte gesagt. Und ein paar
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