0114 - Mädchen, Gangster, blaue Küste
obwohl er nur ihren Vornamen benutzte, kann ich nicht behaupten, dass mir seine Stimme gefiel. Miss Angers zuckte zusammen.
»Das ist Monsieur Ragnier. Entschuldigen Sie mich bitte.«
»Bis heute Abend also!«, rief ich ihr nach.
Als das Mädchen zu diesem Ragnier kam, sagte der Mann einige Sätze in schnellem und gezischten französisch. Ich sah Phil fragend an, aber er schüttelte den Kopf. Er hatte nicht verstanden.
Wir legten ein paar Francnoten auf den Tisch und gingen.
»Hast du sie eingeladen, weil du hoffst, mehr von ihr zu erfahren?«, fragte Phil, während wir durch die Gassen zum Citroën gingen. »Sie macht nicht ein Eindruck, als wäre sie zu irgendwelchen ungesetzlichen Taten fähig.«
»Aktiv sicherlich nicht, aber sie könnte zum Gegenstand eines Verbrechens werden. Erinnere dich an die Geschichte der Schwedin, die Surviel uns erzählte. Findest du keine Parallelen? Auch Mary Angers ist unabhängig, hat keine Angehörigen und niemanden, der nach ihr suchen lassen würde, wenn sie plötzlich von der Bildfläche verschwände.«
Phil schüttelte zweifelnd den Kopf.
»Du sprichst, als betrachtetest du jedes Wort, dass der unglückliche Surviel bei unserer ersten und einzigen Begegnung mit ihm gesagt hat, als den Tatsachen entsprechend. Inspektor Bodin, der die Verhältnisse besser kennt als wir, hielt alles für leeres Geschwätz.«
»Ich weiß, dass der Marquis vielleicht nur einem Hirngespinst nachgejagt ist, aber warum sollen wir nicht ein wenig nachprüfen, solange wir nicht mehr dabei zu tun brauchen, als mit einem hübschen Mädchen durch laue südliche Nächte zu spazieren.«
***
Am späten Nachmittag kam Inspektor Bodin in unser Hotel.
»Ich habe Sie in der Konferenz vermisst.«
»Wir fühlten uns nicht ganz wohl, Inspektor. Anscheinend haben wir uns gestern doch einen Schnupfen geholt.«
Er lachte. »Geben Sie zu, dass Sie geschwänzt haben.«
»Zugegeben, aber erzählen Sie es nicht unserem Delegationschef. Er hat wenig Sinn für Humor.«
Er zog ein zusammengefaltetes Papier aus der Tasche.
»Ich habe eine Abschrift des Obduktionsbefundes mitgebracht. Ich dachte, es würde Sie vielleicht interessieren. Man hat ziemlich viel Wasser in den Lungen gefunden. Das spricht eindeutig für einen Unglücksfall.«
»Haben Sie daran gezweifelt?«
Bodin zögerte, bevor er antwortete: »Ich war etwas misstrauisch. Surviel hat immerhin sein halbes Leben an der Küste verbracht. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass er sich von einem Unwetter überraschen ließe.«
»Haben Sie nie daran gedacht, dass an seiner Mädchenhändler-Story etwas Wahres gewesen sein könnte?«
Der Inspektor schüttelte den Kopf. »Ich möchte nicht unhöflich sein, Monsieur Cotton, aber das war eine Räuberpistole. Die Côte d’Azur ist eine Touristengegend. Hier mag die kleine Gaunerei blühen, vom Taschendiebstahl bis zum Autoeinbruch. Wir hatten auch zwei- oder dreimal größere Juwelendiebstähle zu verfolgen, aber ich halte es für ganz unmöglich, dass eine Bandenorganisation die Mädchen von der Straße stehlen kann, um sie nach Nordafrika zu verfrachten.«
»Was wird aus Surviels Freundin, dieser Miss Evelyn Draw?«, wechselte ich das Thema.
»Ich war vorhin noch einmal in der Villa. Ein Dutzend Verwandte des Marquis lungerten mit gierigen Augen herum. Ziemlich scheußlicher Anblick, obwohl alle natürlich taten, als würden sie vor Schmerz zerfließen. Das Testament wird erst in drei Tagen geöffnet. Ich denke, am meisten Aussichten hat Emile Froyer, ein Neffe von Surviel. Er hat Evelyn Draw bereits großartig erklärt, sie könne vorläufig weiter im Haus bleiben. Ich glaube, er hätte nichts dagegen, auch in diesem Falle das Erbe seines Onkels anzutreten. Was haben Sie heute Abend vor?«
»Eine nette Sache, Bodin.«
»Bei der Sie mich nicht nötig haben; wie?«, fragte er mit einem Lächeln.
Er zog die Augenbrauen hoch.
»Die Dame spricht Englisch«, antwortete ich.
»Viel Spaß. Sehe ich Sie morgen in der Konferenz?«
»Ich hoffe, falls es heute nicht zu spät wird.«
***
Gegen elf Uhr abends parkten wir unseren Wagen an der gleichen Stelle am Quai von Antibes und tauchten in die Gassen ein. Die Beleuchtung war miserabel. Kurz bevor wir den kleinen Platz erreichten, sahen wir eine Gruppe von vier oder fünf jungen Burschen an den Hausmauern lungern.
Wir beachteten sie nicht, aber einer von ihnen schob sich in unseren Weg.
»Have a cigarette for me, friend?«, quäkte er mich an.
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