0119 - Königin der Seelenlosen
nicht verständlich? Sehen Sie sich doch um! Betrachten Sie die Zeichen an der Wand! Es sind Schriftzeichen, lieber Freund. Dummerweise nicht zu entziffern. Doch einige scheinen mir mit dem Sunnitischen verwandt zu sein. Schauen Sie dort oben, links in der Decke.« Er streckte den Arm in die Richtung. »Ähnelt ungeheuer dem altsunnitischen Schriftzug für ›Dämon‹. Finden Sie nicht auch?«
Justin Malder sah in die angegebene Richtung. Er fand das entsprechende Wortzeichen auch. Es hatte eine verzweifelte Ähnlichkeit mit einem stilisierten Reptilienschädel aus dem Paläozoikum. Dieses Zeichen hatte er heute schon einmal gesehen. Auf dem Stein, den van Straaten mit einem Vandalenhieb zerschmettert hatte.
Der junge Assistent schluckte.
»Ha…, haben Sie noch mehr entziffern können?«
»Nur nicht so schnell mit den jungen Pferden, lieber Freund. Wir haben noch Jahre Zeit. Fest steht bisher jedenfalls, daß diese Grotte von Menschen errichtet wurde, die weit vor unserer Zeitrechnung und damit auch der bekannten Geschichtsschreibung lebten. Und damit haben wir sogar noch verdammtes Schwein gehabt. Ich neige inzwischen zu der Ansicht, daß wir nicht ein Grabmal gefunden haben, sondern die Überreste einer einstigen Burg, und davon wiederum nur den tiefsten Keller. Alles, was einmal darüberlag, haben die Zeiten abgetragen.«
»Also hat dieses Bauwerk nichts mit den Berbern zu tun?« fragte Justin Malder mit erwachendem Interesse.
Van Straaten hob die Schultern und ließ sie wieder fallen.
»Ich bin noch nicht soweit, mich in Mutmaßungen zu versteigen. Tatsache jedoch bleibt, daß bis auf den Tag niemand genau weiß, woher das Bauernvolk der Berber eigentlich stammt. Viele dieser Afrikaner könnten von ihrer Physiognomie, von ihrem Gesichtsschnitt und ihrem Schädeltypus her aus Skandinavien zugewandert sein. Sie besiedelten den Nordteil dieses Kontinents lange vor den Arabern. Ihre Spuren ließen sich bisher ins dritte vorchristliche Jahrtausend zurückverfolgen.«
Dieses »bisher« versah van Straaten von der Betonung her schon mit Gänsefüßchen. Er ließ damit anklingen, daß sein Fund vermutlich ein vollkommen neues Kapitel der Geschichtsschreibung aufgeblättert hatte.
»Und das wenige, was wir von den Berbern wissen, wird jetzt in ein vollkommen neues Licht gerückt. Dieses Bauernvolk lebte nicht immer so primitiv wie in den heutigen Tagen. Es bestellte kleine Parzellen. Manchmal gibt es Ernten, manchmal gibt es keine. So wurden sie zu nomadisierenden Bauern, und in unseren Tagen werden sie immer mehr zu Nomaden.«
Van Straaten redete sich in eine erregte Begeisterung hinein. Er lief von der Truhe weg zu der rechten Seitenwand.
»Hier, Justin. Sehen Sie sich dieses Bild ganz genau an! So kommen Sie doch näher, und stehen Sie nicht herum wie ein Holzklotz!«
Justin Malder trat näher.
Plötzlich vergaß er die Mißhelligkeiten des Tages, und er brachte sogar eine Spur von Verständnis für van Straatens abnormes Verhalten auf. Was er zu sehen bekam, war tatsächlich phänomenal. Van Straaten rückte das Stativ mit der Lampe näher heran. Die Farben wurden noch plastischer. Justin Malder ging vor einem etwa 20 mal 30 Zentimeter großen Fresko in die Hocke.
Es zeigte die typischen Bergkuppen des Anti-Atlas bei Tarhjit, und zwar von einem südlich gelegenen Standpunkt nach Norden hinauf. Im Vordergrund eine Burg mit unverkennbar maurischen und trotzdem wuchtigen Stilelementen. Dahinter das Massiv des Toubkal und daneben der etwas niedrigere Zwillingsberg Siroua. Dazwischen jedoch sattes Grün, wehende Palmwipfel und ein breiter Flußlauf mit vielen Verästelungen und Lagunen, in denen einbeinig reiherähnliche Vögel mit brandroten Schnäbeln und einem blauen Federkleid standen.
Üppige Vegetation im Anti-Atlas…
»Ist der Groschen gefallen, Justin?« ließ sich Professor van Straaten vernehmen. »Sie wissen, daß die ganze Sahara früher einmal subtropisches Gebiet war. Damals war ganz Mitteleuropa noch mit Gletschern bedeckt. Dann kam es zu einer Verschiebung der Erdachse, die Polkappen schmolzen ab, und es ereignete sich jene Katastrophe, die in den Sagen und Legenden vieler Völker als die große Flut oder die Sintflut bezeichnet wird. Und das, mein Freund« - van Straatens Stimme schwoll zu pathetischer Orkanstärke an - »ist ein Gemälde aus der vorsintflutlichen Zeit. Selbst bei vorsichtigster Schätzung würde ich das Fresko auf eine Entstehungszeit von mindestens 15.000 Jahren vor
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