012 - Der Schatten des Vampirs
Glas Wasser in der Hand. Sie hatte die Chinintabletten gezählt und wollte sie nun dem Verletzten verabreichen.
Santiago schlief. Er hatte heute zwar noch hohes Fieber gehabt, aber es schien ihm besser zu gehen. Dennoch war Concha sehr beunruhigt. Seit dem Mordanschlag war schon eine Woche vergangen. Nach der ersten Versorgung durch die „Mama“ hatte man einen Arzt kommen lassen, der auf einer entfernten Ranch wohnte.
Er versicherte Concha, das Leben ihres Geliebten sei nicht in Gefahr, da die Navaja nicht die Lunge getroffen hätte. Zum Glück wäre die Wunde weniger gefährlich, als sie im ersten Augenblick ausgesehen hätte. Außerdem habe die Schnelligkeit, mit der Felipe um Hilfe rief, dazu beigetragen, ihm das Leben zu retten.
Ordentlich verbunden, von Concha eifersüchtig gepflegt und natürlich vollgestopft mit dem unausweichlichen Chinin, ging es Santiago nun etwas besser.
Am schlimmsten war es, wenn Concha hinunter in die Posada zu ihrem abendlichen Auftritt gehen musste. Sie regte sich immer wieder von neuem auf, wenn sie ihn allein lassen musste.
Gewiss, Felipe hatte sich als treuer Diener erwiesen, der ihr leise zur Hand ging in den ersten Tagen, als der Kranke im Delirium lag. Trotz allem – restlos traute sie ihm nicht.
Aber sie hatte keine andere Wahl.
Sie musste an ihre gemeinsame Zukunft denken, jetzt erst recht, und durfte ihren Beruf nicht vernachlässigen. Die „Mama“ hätte auch nicht geduldet, dass Concha auch nur einen Abend wegblieb. Schließlich konnte ja Santiago auch nichts verdienen, obwohl die Latexernte jetzt anfing.
Vor José brauchte sie sich nicht mehr zu fürchten. Das Attentat auf Santiago trug den Stempel der bösen Mächte, da täuschten sie die Seringueiros nicht. Umso mehr, als der Vampir davongeflogen war, während sie Felipes Hilferufen folgten. Und seitdem war er auch nicht mehr im Dorf gesehen worden.
Trotz allem hatte Concha Angst, er könne noch einmal zurückkehren und sich rächen. Sie dachte dabei mehr an Santiago als an sich selbst. Es gab viele Dinge, vor denen sie Angst hatte, besonders seit dem Abend, als sie von den bösen Mächten gezwungen worden war, nach dem Zauberlied zu tanzen. Im Grunde ihres Herzens glaubte sie nicht daran, dass die Gefahr für Santiago und sie gebannt war. Der Mordversuch Joses war ihrer Meinung nach auch eine indirekte Folge des Fluchs, der über ihrer Liebe hing.
Dennoch musste sie heute wieder hinuntergehen zur Posada, ob sie wollte oder nicht. Sie warf einen Mantel über ihr paillettenbesticktes Kostüm und war heilfroh, dass die Regenzeit vorüber war und sie sich wenigstens zu Hause umziehen konnte. Umso länger war es ihr möglich, an Santiagos Bett zu sitzen.
Es war höchste Zeit, sie musste gehen. Nachdem sie Santiago noch einen Kuss auf die Stirn gedrückt hatte, verließ sie die Hütte.
Betrübt machte sich Concha auf den Weg. Es fiel ihr schwer, ihren Geliebten allein zu lassen, und sie hätte viel darum gegeben, wenn sie heute bei ihm hätte bleiben können.
Noch zögerte sie und ging langsam den schmalen Weg hinunter. Aber dann dachte sie daran, wie sehr ihr die „Mama“ es übel nehmen würde, wenn sie nicht käme. Sie musste ja tanzen, um leben zu können und um ihren Geliebten gesund zu pflegen. Die unbegreifliche Krise, die sie in der Mordnacht befallen hatte, hatte genug Unheil angerichtet.
Sie versuchte jeden Tag aufs neue, gegen ihre Melancholie anzukämpfen, unter der sie seit dem Mordanschlag auf Santiago litt, und auch heute Abend redete sie sich gut zu, zu lächeln, freundlich zu sein und unbeschwert zu tanzen, um die armselige Kundschaft in der Posada nicht zu enttäuschen.
Dennoch kam es ihr vor, als seien die Blicke, die auf sie fielen, plötzlich besonders frech, als habe sich das Verlangen nach der hübschen Tänzerin gesteigert – oder es wurde nur einfach hemmungsloser gezeigt, weil Santiago nicht da war, um sie zu beschützen. Auch dafür würde es gut sein, wenn er endlich wieder gesund wurde.
Sonst …
Sie tastete nach dem kleinen Revolver, den sie sich in den Ausschnitt gesteckt hatte. Er gehörte Santiago, und sie trug ihn jetzt immer bei sich, weil sie sich vor dem Angriff irgendeines Betrunkenen fürchtete oder vor einem Typ wie José, der die Krankheit ihres Liebhabers ausnützen wollte.
Concha hatte ihm befohlen, bei Santiago zu wachen und ihm in einer Stunde die vorgeschriebene Menge Chinin zu geben. Felipe versprach es ihr mit brüchiger Stimme.
Dann war sie gegangen.
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