012 - Die weiße Wölfin
sich knarrend.
Ich zögerte noch immer, denn ich hatte wenig Lust, mich auf einen Kampf mit den Wölfen einzulassen, noch dazu, wo sich Phillip und Miß Pickford in meiner Begleitung befanden.
Phillip nahm mir die Entscheidung ab. Bevor ich noch reagieren konnte, schlüpfte er an mir vorbei durch die Tür und trat in den Garten.
»Phillip!« rief ich mit gedämpfter Stimme und folgte ihm rasch.
Ich packte ihn an den Schultern und wollte ihn zurückziehen. In diesem Augenblick tauchte aus einem Gebüsch ein grauer Wolf auf, dessen Augen gelb funkelten. Er rannte auf uns zu. Verzweifelt wollte ich Phillip aus dem Garten schleppen, doch der Junge wehrte sich.
Der Wolf kam näher. Er duckte sich und setzte zum Sprung an. Ich riß die Pistole hervor und entsicherte sie. Doch ich brauchte nicht zu schießen. Der graue Wolf winselte plötzlich und verkroch sich hinter einem Busch. Der Hermaphrodit schien irgend etwas an sich zu haben, das ihn eingeschüchtert hatte. Phillip setzte sich in Bewegung. Normalerweise ging er ziemlich unsicher, doch jetzt schritt er zielstrebig auf das Haus zu. Immer wieder hörte ich es im Gebüsch rascheln und gleich darauf winselnde Laute, die sich rasch entfernten. Geschickt umging Phillip das große Haus. Laute Musik, Gelächter und Stimmengewirr drangen zu uns heraus.
Phillip ging zwischen zwei Linden hindurch und blieb stehen. Den Blick richtete er auf die Rückseite des Hauses, die im Dunkeln lag. Ich konnte nicht viel erkennen, doch knapp über dem mit Kies bestreuten Weg entdeckte ich einige kleine Fenster. Hinter einem schimmerte Licht.
Der Kies knirschte unter unseren Schritten. Ich blieb vor dem erleuchteten Fenster stehen, bückte mich und richtete mich enttäuscht wieder auf. Die Fenster waren aus Milchglas, und ich konnte nicht hindurchsehen. Ich versuchte eines zu öffnen, doch es gelang mir nicht. Wieder zupfte mich Phillip am Ärmel. Ich folgte ihm. Er blieb vor einem anderen Fenster stehen, das offenstand. Ich kniete nieder und drückte die Flügel zurück. Undurchdringliche Finsternis lag vor mir.
»Haben Sie vielleicht eine Taschenlampe bei sich, Miß Pickford?« fragte ich leise.
»Ja«, hauchte sie und öffnete ihre altmodische Handtasche. Sie suchte kurze Zeit darin herum und reichte mir dann eine Bleistiftlampe.
Ich knipste die Lampe an und beugte mich vor. Der Strahl der Lampe fiel auf eine Rutsche, die ins Innere des Hauses führte. Wahrscheinlich wurde die Rutsche dazu benutzt, Lebensmittel in den Keller zu schaffen.
»Ihr wartet hier auf mich«, sagte ich leise und setzte mich mit den Füßen voran auf die Rutsche.
In der linken Hand hielt ich die Lampe und in der rechten die entsicherte Pistole. Langsam schob ich mich durch die schmale Fensteröffnung, bis mein Körper ganz auf der glatten Rutsche lag. Dann ließ ich los und glitt nach unten. Ich hatte mich nicht getäuscht. Die Rutsche führte in einen Vorratsraum. Überall waren Kartons aufgeschichtet. Unten angekommen, richtete ich mich auf. Zwischen den Kartons entdeckte ich eine schmale Eisentür. Ich leuchtete einmal flüchtig über die Kartons. Neben der Rutsche lehnten Säcke. Erschrocken fuhr ich herum, als ich hinter mir ein Geräusch hörte.
»Verdammt!« brummte ich unwillig.
Phillip kam die Rutsche herunter. Er blieb neben mir stehen. Nach wenigen Sekunden folgte ihm Miß Pickford.
»Ich sagte doch, daß ihr auf mich warten solltet!«
»Phillip ließ sich nicht zurückhalten«, sagte sie.
Ich seufzte. Es hatte keinen Sinn, sich aufzuregen. Vorsichtig durchquerte ich den Lagerraum und öffnete die Eisentür. Dahinter lag ein Weinkeller. In Regalen, die bis zur Decke reichten, lagen Hunderte von Flaschen.
Ich erreichte die gegenüberliegende Tür. Ein intensiver Geruch hing in der Luft. Ich hörte die Wölfe knurren. Die Tür war aus Holz und hatte ein Oberlicht, das halb offenstand. Ich zögerte, sie zu öffnen. Statt dessen leuchtete ich mit der Lampe den Keller ab. Unweit der Tür standen Kisten. Ich packte eine, stellte sie neben die Tür, stieg hinauf und konnte nun durch das Oberlicht in den dahinterliegenden Raum sehen.
Dieser war in mattes Licht getaucht. Gegenüber von der Tür führten Stufen nach oben. Ich wandte den Kopf nach links. Eine hohe Gitterwand teilte den Raum in zwei Hälften. Hinter dem Gitter erblickte ich mindestens zwanzig Wölfe. Die Tiere waren unruhig; das Fell gesträubt, knurrten sie sich an. Sie drängten sich dicht an das Gitter, und plötzlich wurden
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