0125 - Der Leichenbrunnen
sie mir. »Auch als sie den Namen sagten.«
»Und?«
»Ich kenne diesen Namen.«
Das war eine Überraschung. »Haben Sie schon mit ihm zu tun gehabt? Hat er Sie vertreten?«
»Nein, das nicht.« Sie senkte den Kopf und machte Fingerübungen, aus Verlegenheit, wie ich annahm.
»Was ist denn?« Beide Hände legte ich auf die Schultern der jungen Frau. »Reden Sie.«
»Mr. Sinclair, ich kenne den Namen. Aber nicht aus London, sondern von früher, also von meinem ersten Leben her. Der Name ist mir in den Alpträumen begegnet.«
Ich erinnerte mich. Sie hatte in der Hypnose den Namen Lionel erwähnt.
War dieser Lionel Finch etwa ihr Liebster in ihrem früheren Leben gewesen? Damit hatte ich nicht gerechnet, doch die Aussage bewies mir, daß wir uns auf der richtigen Spur befanden.
»Was sagen Sie dazu?«
Ich ließ die Arme wieder sinken und hob die Schultern. »Eigentlich nichts. Das heißt, wir können froh sein, denn wir sind auf einer guten Fährte.«
»Sie meinen, daß bei Horse Lodge alle Fäden zusammenlaufen.«
»So ungefähr.«
Cora sah sich scheu um. »Aber wo ist hier der Brunnen?« murmelte sie. »Ich sehe ihn nicht.«
»Irgendwo im Wald oder am Sumpf. Wir werden fragen.«
»Und dann?«
»Weiß ich selbst noch nicht«, erwiderte ich und schaute dem abfahrenden Streifenwagen nach. Er hatte noch gewendet. Die Polizisten winkten aus dem Wagen heraus.
Wir waren wieder allein.
»Ich habe Angst, Mr. Sinclair«, gestand mir das Girl.
»Vor wem?«
»Vor der Zukunft.«
»Das brauchen Sie nicht«, beruhigte ich sie.
»Doch, Mr. Sinclair. Ich habe Angst davor, daß sich die Ereignisse der Vergangenheit wiederholen.«
Ich hörte die Worte zwar, registrierte sie jedoch nicht, denn ich hatte etwas entdeckt. Im Graben, neben der Straße, schimmerte etwas Bleiches durch die hohen Gräser.
»Bleiben Sie zurück«, sagte ich zu Cora, als ich in den Graben sprang. Sie fragte noch etwas, ich hörte gar nicht hin, sondern bückte mich.
Mein Fund war makaber.
Vor mir lagen Menschenknochen!
***
Auch Cora hatte sie gesehen und stieß einen spitzen Schrei aus. Ich fuhr herum. »Bleiben Sie, wo Sie sind!« rief ich ihr zu. »Das ist nichts für Sie.«
Ich ging in die Hocke und besah mir die Knochen genauer. Ja, es waren Menschenknochen, daran gab es nichts zu rütteln. Aber man hatte sie zerstört. Von den Armen und Beckenknochen sah ich zersplitterte Reste, ähnlich verhielt es sich mit dem Schädel. Viel war von ihm auch nicht mehr zu sehen. Mir kam es vor, als wäre eine Walze über das Skelett gefahren.
Wie kam das zerstörte Skelett in den Graben? Das war die große Frage. War es überhaupt ein normales Skelett oder eine grausame Horror-Figur, die man ohne weiteres gar nicht töten konnte?
Ich faßte nach einer Hand.
Das hätte ich nicht tun sollen, denn plötzlich bewegten sich die Finger und schnappten zu. Im letzten Augenblick gelang es mir, auszuweichen, sonst hätte die Totenhand es doch geschafft, meinen Arm zu packen.
Das war erst der Anfang.
Es ging weiter.
Plötzlich bewegten sich sämtliche Knochen. Als würde jemand an Bändern ziehen, so rutschten sie im hohen Gras hin und her, liefen aufeinander zu und wurden zu einer Figur.
Ein Skelett entstand!
Hinter mir schluchzte Cora Bendix auf. »Mr. Sinclair, was ist das? Ich werde noch verrückt…«
»Bleiben Sie ruhig«, erwiderte ich und ließ den Knochenmann nicht aus den Augen.
Er sah schaurig aus. Die Knochen hingen ja nicht regelmäßig aneinander. Sie waren zum Teil zerstört, zersplittert und zerbrochen.
Aus dem ehemaligen Skelett war nur mehr ein Fragment geworden.
Aber ein gefährliches.
Ich starrte auf den Schädel. Seine linke Seite war eingedrückt, aus dem Maul stach ein langer Knochensplitter. Nur die Hände waren noch einigermaßen in Ordnung, und die wollte das Skelett auch an mir ausprobieren.
Dagegen hatte ich etwas.
Als die Klauen zupackten, trat ich zur Seite und zog die Kette mit dem Kreuz über meinen Kopf.
Beinahe lässig warf ich das Kreuz dem Skelett entgegen.
Ich traf seinen Brustkorb. Zudem blieb das Kreuz noch zwischen den Knochen stecken. Es verkantete sich.
Die Wirkung war frappierend.
Ein gleißendes, überirdisch helles Licht hüllte plötzlich das Skelett ein, blendete mich und war eine Sekunde später wieder verschwunden.
Ebenso wie das Skelett.
Kein einziger Knochen lag mehr im Graben. Nur grauer Staub bedeckte die hohen Gräser.
Und dazwischen lag mein Kreuz.
Ich bückte mich, hob es auf
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