013 - Der Kopfjäger
einem neuen Geist zu beseelen. Er sprach von einer Geisterbeschwörung, die er zusammen mit Gilbert Sanson durchführte. Es gelang ihnen, den Urahn von Gilbert Sanson, Charles-Henri Sanson de Longval, zurückzuholen, dessen Geist sich mit dem von Pierre Gormat vereinigt hat. De Buer konnte den Henker von Paris jedoch nicht unter seiner Kontrolle behalten. Er machte sich selbständig. De Buer wollte einen neuen Homunkulus schaffen, um den Henker auszuschalten.«
Das konnte allerdings böse werden. Wenn sich Sanson tatsächlich auch nur teilweise der Kontrolle de Buers entziehen konnte, dann war es ziemlich sicher, daß er noch am Leben war. Ich ging unruhig im Operationssaal auf und ab. De Buer hatte uns verflucht. Davor hatte ich keine Angst. Aber vielleicht war es ihm im Tod noch gelungen, Sanson zu beeinflussen.
»Hat er ihnen verraten, wo sich Sanson aufhält?«
Sybill schüttelte den Kopf.
»Wir werden das Sanatorium durchsuchen«, schlug ich vor. »Aber zunächst müssen wir Kleider für Sie beschaffen.«
Jetzt erst wurde Armand und Sybill bewußt, daß sie nackt waren. Das hatten sie völlig vergessen. Ich sah nach der bewußtlosen Schwester und dem jungen Mann. Sie atmeten ruhig. Ich schüttelte die Schwester leicht, doch sie wachte nicht auf.
»Wir werden später die Polizei verständigen«, sagte ich. »Aber zuerst sehen wir uns im Haus um.«
Wir durchsuchten den zweiten Stock. Immer wieder stießen wir auf bewußtlose Krankenschwestern und Pfleger. In einigen Zimmern lagen Patienten in todesähnlichem Schlaf. Im ersten Stock entdeckten wir einen Raum, der voll mit Kleidern war. Nach kurzem Suchen hatte Melville seinen Anzug gefunden. Sybill brauchte etwas länger, bis sie ihre Habseligkeiten entdeckte. Die beiden kleideten sich an, dann setzten wir unsere Suche nach dem Henker fort – jedoch ohne Ergebnis.
Ich durchsuchte de Buers Privaträume in der Hoffnung, irgendeine Aufzeichnung zu finden, entdeckte aber nichts. Wo könnte er seine Notizen hinterlassen haben? Vielleicht in seiner Wohnung in der Rue Moret.
Vom Pförtnerhaus aus rief ich die Polizei an. Ich ließ das Tor offen, und wir stiegen in meinen Simca. Unterwegs kam uns ein Streifenwagen der Polizei entgegen.
»Sie heißen nicht Garner«, sagte Sybill, die neben mir saß. »De Buer sagte Dorian Hunter zu Ihnen.«
»Das ist mein richtiger Name«, sagte ich.
Ich gab keine weiteren Erklärungen, und Sybill zog es vor zu schweigen. Meine Gedanken beschäftigten sich mit dem verschwundenen Henker. Es war natürlich durchaus möglich, daß de Buer mich belogen hatte und der Henker von Paris mit seinem Tod gestorben war. Aber ich glaubte nicht daran.
Armand Melville hatte sich von seinem Schock bereits gut erholt. »Das wird vielleicht eine Story!« grunzte er zufrieden.
»Sie werden gar nichts schreiben, Melville«, sagte ich.
»Na, hören Sie mal!« brauste er entrüstet auf. »Das ist die beste Geschichte meines Lebens.«
»Die Wahrheit können Sie ohnehin nicht ausplaudern. Da würden die Leute Sie doch für verrückt halten. Überlegen Sie! Was wollen Sie denn schreiben?«
»Nun, daß de Buer hinter den Morden steckte. Daß er …«
»… ein Vampir war«, vollendete ich seinen Satz. »Wenn Sie das schreiben, wird Ihnen Ihr Chefredakteur einen Psychiater auf den Hals hetzen.«
Er knirschte mit den Zähnen. Langsam dämmerte ihm, daß er diese tolle Story nicht ausschlachten konnte.
»De Buer ist verschwunden«, sagte ich. »Und seine Asche schwimmt in irgendeinem Kanal. Sie haben keinerlei Beweise. Sie könnten höchstens über de Buers Sanatorium berichten. Aber das würde ich an Ihrer Stelle lieber bleibenlassen, denn selbst da können Sie nicht die Wahrheit schreiben. Überlegen Sie sich das alles gut!«
Melvilles Zähneknirschen wurde noch lauter. »Sie haben recht«, sagte er schließlich bitter. »Da habe ich die tollste Story und darf nicht darüber schreiben. So eine verdammte Sauerei!«
»Seien Sie froh, daß Sie noch leben, Armand«, sagte Sybill. »Wissen Sie, was de Buer mit Ihnen vorhatte?«
»Ja, er wollte mich töten«, sagte Melville kleinlaut. Der Gedanke schien ihn zur Besinnung zu bringen. Er kniff die Lippen zusammen. »Ohne Ihr Erscheinen, Hunter, wären wir jetzt beide tot. Ich habe Ihnen noch gar nicht dafür gedankt, daß …«
»Lassen Sie das«, sagte ich und grinste. »Verschonen Sie mich mit Dankesfloskeln. Tun Sie mir nur einen Gefallen, schreiben Sie im Augenblick kein Wort über Ihre
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