013 - Draculas Liebesbiss
verborgen. Das
auffällige Kleidungsstück war dort – für den Augenblick jedenfalls besser
aufgehoben. Es fiel ihm schwer, auf diesen Mantel zu verzichten, an dem so
viele Erinnerungen hingen. Doch die Sicherheit ging der Sentimentalität vor.
Der Fahrer erhielt keinen Hinweis
über das Ziel. Er schien bereits Bescheid zu wissen.
»Wohin fahren wir?« Charlene
fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut. Sie warf einen Blick zu Candis und
erwartete, daß die Freundin sie aufklärte. Das dunkle Seitenfenster wurde in
dieser finsteren, nebeligen Nacht zum Spiegel. Charlene sah das Spiegelbild
Candis’ darin, schwach und undeutlich, und entdeckte ihr eigenes bleiches
Gesicht, von blonden Haaren umrahmt.
Ihr Herzschlag stockte.
Der Fremde saß neben ihr. Wieso
zeigte sich sein Spiegelbild nicht? Eisiges Entsetzen packte sie und ließ das
Blut in ihren Adern erstarren.
Die Gesichter Candis’ und des
Fremden schienen auf sie zuzukommen. Beide lächelten. Das Lächeln Candis’ von
vorhin kam ihr in den Sinn. Es erschien ihr nun boshaft, überheblich,
unheimlich.
Das Lächeln jetzt – verstärkt –
formte ihr hübsches, anziehendes Gesicht zur Fratze.
Sie zeigte die weißen Zahnreihen.
Ein gellender Aufschrei kam aus Charlenes Kehle.
Das Gebiß eines Vampirs!
●
Und neben ihr der Fremde –
Dracula, der König der Vampire. Die langen Eckzähne ragten über die Unterlippe.
Alles an Charlene wurde steif.
Sie reckte sich.
Mit beiden Händen trommelte sie
gegen die Trennscheibe zum Fahrersitz. »Bleiben Sie stehen! Hilfe, man will
mich entführen! So tun Sie doch etwas! Halten Sie an!«
Der Fahrer wandte nur leicht den
Kopf. Ein bleiches Gesicht, dunkle Augen. Der Mann lächelte. Er schien nichts
zu verstehen und nichts zu begreifen.
Mit halsbrecherischem Tempo raste
der Fahrer durch enge Gassen und menschenleere Straßen. Kaum wahrnehmbare
Häuser hinter den Bürgersteigen peitschten wie dunkle Streifen vorbei.
Man wollte sie entführen! Das
Ganze war ein Komplott! Candis, die arme Candis, hämmerte es in ihrem Gehirn.
Charlene warf sich herum. Sie
setzte alles auf eine Karte. Ihre Finger griffen nach der Klinke.
»Sie werden doch die Tür nicht
aufreißen und hinausspringen«, hörte sie Draculas dunkle Stimme. »Das ist
gefährlich. Sie könnten sich den schönen Hals brechen.«
Mit harter Hand riß er sie herum.
Charlene wollte verhindern, daß er ihr in die Augen sah. Aber mit Gewalt drehte
er ihr den Kopf auf die Seite, und der Bruchteil einer Sekunde genügte, um
ihren Blick zu fesseln.
Die dunklen, unergründlichen
Augen Draculas, verschwommen dahinter das Lächeln des Vampirs.
Ein Schauer rieselte durch
Charlenes Körper. Mit zarter Hand zog Dracula sie an sich. »Ja, Charlene, du
hast einen schönen, weißen Hals. Zart und zerbrechlich wieder Stengel einer
Lilie.«
Sie schloß die Augen, als die
Lippen des Mannes sie berührten. Ein süßes, Gefühl der Zärtlichkeit und
Erregung, Schmerz und Hingabe mischten sich zu einem ungekannten Etwas in ihrer
Empfindungswelt, als Draculas Zähne sich in ihre Haut bohrten.
Sie nahm den Liebesbiß Draculas
mit einem leisen Aufschrei der Lust entgegen.
●
»Er ist pünktlich. Es war auch
gar nicht anders zu erwarten«, sagte Horsley wie im Selbstgespräch. Unten
schlug eine Autotür zu. Dann röhrte der Motor wieder auf. Der Chauffeur fuhr
die Manette Street herunter. Er wußte nichts mehr von den unheimlichen Gästen,
die er gefahren hatte, kannte weder das Apartmenthaus in der Southampton Row
noch das blatternarbige Gebäude des Bestattungsunternehmers. In der Hypnose
hatte er befehlsgemäß alles vergessen, sich jedoch – ebenfalls durch
hypnotischen Auftrag – heute abend wieder an die Anschrift erinnert. Draculas
Auftrag war es gewesen, zu einem bestimmten Zeitpunkt abgeholt zu werden. Der
König der Vampire sah jedoch ein, daß er in der letzten Nacht mit dieser
Entscheidung einen Fehler begangen hatte. Scotland Yard war ihm auf den Fersen.
Die Spur war über das Taxi verfolgt worden.
Nun hieß es, auf der Hut zu sein.
Diesmal zahlte Dracula den Fahrpreis und gab dem Fahrer sogar noch acht
Schilling und sechs Dimes mehr. Das war der gesuchte Differenzbetrag.
»Stecken Sie die Münzen unter den
Fußteppich. Da sind sie gestern abend hingefallen. Niemand hat sie bisher
entdeckt. Wenn die Polizei Sie noch mal vernehmen sollte, dann erinnern Sie
sich auch mit einem Mal an einen blonden Amerikaner, der behauptete, als
Tourist in
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