013 - Draculas Liebesbiss
Fenster, und Candis stieg in das warme, gemütliche Zimmer. Die
kühle Luft hinter ihr trug die Nebelschwaden in den Wohnraum, die sich unter
der Wärmeeinwirkung rasch auflösten.
Die Freundin schloß das Fenster
und zog die Vorhänge zu.
»Candis?« flüsterte sie. »Bist
du’s wirklich? Aber …!« Charlene griff sich an die Stirn. Der Vorgang überstieg
ihr Begriffsvermögen.
»Das Ganze war ein Irrtum.«
»Aber der Mord – man hat dich in
einem Zinksarg weggeschafft! Du lebst, Candis?« Erst jetzt, wo die Freundin so
dicht vor ihr stand, wo sie die vertraute Stimme hörte und die ihr
wohlbekannten Gesichtszüge sah, wagte sie diese direkten Fragen.
»Warum sollte ich tot sein? Ich
sagte bereits: das Ganze war ein Irrtum. Ein Unfall …« Candis winkte ab. Sie
wirkte bleich und überanstrengt, sie atmete schwer, und man sah ihr an, daß sie
einen langen Weg hinter sich hatte. Sie wirkte erschöpft.
»Leg dich hin, ruh dich aus.«
Charlene sprach unwillkürlich leise, als fürchte sie, ein lautes Wort könne die
Freundin erschrecken. »Ich werde gleich die Mädchen in Harrigan’s anrufen und
Ihnen sagen, daß du hier bist und …«
Candis schüttelte so heftig den
Kopf, daß Charlene erschreckt innehielt. »Nein, das wirst du nicht tun!« Sie
sagte es mit einer Bestimmtheit, die Charlene überraschte.
Candis machte es sofort wieder
gut. »Entschuldige! Ich bin etwas nervös.«
»Das kann ich mir denken. Wenn
man für tot erklärt wird …«
»Auch damit hängt es zusammen,
ja. Aber das Wichtigste ist: er.«
»Er?«
Candis Gesicht verklärte sich.
»Ja, er ist wundervoll. Ich kann nicht hier bleiben. Ich werde sofort wieder
gehen.«
All die Fragen, die Charlene auf
der Zunge lagen, wurden nicht mehr ausgesprochen. Alles war plötzlich auf eine
einzige Frage konzentriert.
»Wer ist ›er‹, Candis?«
Die Augen der bleichen
Striptease-Tänzerin glänzten. »Ich bin nie im Leben zuvor einem solchen Mann
begegnet. Ihm zuliebe gebe ich alles auf, Charlene. Komm mit, begleite mich! Du
sollst ihn kennenlernen.«
»Aber wer ist es? Warum
verschweigst du seinen Namen?« Charlene fuhr mit der Rechten durch das
schulterlange Haar. Es war dick, glänzte wie Seide und rahmte ein hübsches
Gesicht, in dem der feuchte Mund verlockend wie eine Blüte schillerte.
Das Ganze gefiel ihr nicht.
Candis’ plötzliches Auftauchen war schon genug. Aber nun die Sache mit dem
geheimnisvollen Fremden. Stand die Freundin unter dem Einfluß einer Droge?
Charlene ließ sich ihre Unruhe
nicht anmerken. Es war ihr eigentlich niemals aufgefallen, daß Candis haschte
oder zu weitaus schlimmeren Drogen wie Heroin oder LSD griff. Menschen, die das
taten, ließen zumindest den engsten Freundeskreis davon wissen, denn sie
wollten, daß diese Freunde mit nach dem Joint griffen.
Aber bei Candis war dies nie der
Fall gewesen. Und nun, wie aus heiterem Himmel …
Mechanisch schüttelte Charlene
den Kopf.
Der Zustand Candis’ gestern abend
– ein Koma nach einem Trip?
Alles mögliche ging ihr durch den
Kopf. Aber sie kam nicht mit einem einzigen Gedanken der Wirklichkeit näher,
einer Wirklichkeit, die so absurd, so schaurig war, daß man die Wahrheit
unmöglich ahnen konnte.
Candis machte sich an ihrem
Kleiderschrank zu schaffen.
Das von der feuchten Luft und vom
Schmutz der Straße befleckte und verschmierte Laken ließ sie einfach von ihren
Schultern rutschen. Sie griff nach einem winzigen Schlüpfer und stieg hinein.
Einen BH holte sie erst gar nicht aus dem Wäschefach. Sie war es gewohnt,
keinen zu tragen.
Von den Kleidern nahm sie ein
dunkelblaues aus dem Schrank, das ihren zarten, blonden Typ unterstrich. Sie
schlüpfte hinein, zog den Reißverschluß in die Höhe und ordnete ihre Haare,
ohne dabei einen Spiegel zu benutzen.
»Weder Handtasche noch Mantel,
keinen Hut? So willst du gehen?«
Candis nickte. »Ja, für immer!
Dir erginge es ebenso. Alles, was ich hier zurücklasse …« Sie winkte ab. »… ist
unwichtig. Ich werde zu ihm gehen und bei ihm bleiben. Niemals mehr wird man
mich in London sehen.«
»Du machst mich langsam
neugierig. Es muß ja ein toller Mann sein, der dich so aus der Fassung bringt.
Wieso hast du niemals von ihm erzählt?«
Candis lächelte rätselhaft. »Es
gibt Dinge; über die man nicht spricht. Außerdem lernte ich ihn ganz plötzlich
kennen. Doch das alles ist völlig unwichtig jetzt. Ich muß mich fertigmachen.
Punkt elf will er mich hier abholen.« Sie warf einen Blick auf die
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