014 - Das Geheimnis der gelben Narzissen
sterbend in dem Hinterhof von Ho Hans Teehaus aufgefunden. Das Mädchen war dort als Tänzerin angestellt, sehr gegen den Willen ihres Bruders. Sie war die indirekte Veranlassung zu einem recht unangenehmen Auftritt, über den wir vorige Woche berichtet haben. Man nimmt an, daß diese tragische Tat einer der Selbstmorde war, um das Gesicht zu retten, wie sie unter den eingeborenen Frauen in diesem Lande leider sehr häufig vorkommen.‹ Tarling pfiff vor sich hin.
Die kleine Narzisse! Sie war also die Schwester Ling Chus gewesen! Er kannte die Chinesen ein wenig, kannte ihre unendliche Geduld und ihren Haß, der niemals vergibt. Der ermordete Thornton Lyne hatte nicht nur die Tänzerin tödlich beleidigt, sondern auch ihre ganze Familie! In China beleidigt man nicht nur den einzelnen, sondern eine Gesamtheit. Und dieses Mädchen hatte in dem Bewußtsein der Schande, die auf ihren Bruder fiel, den einzigen Ausweg gewählt, der ihr als Chinesin übrigblieb.
Aber welcher Art mochte die Kränkung gewesen sein? Tarling suchte in den chinesischen Zeitungsausschnitten und fand auch verschiedene Erzählungen in blumenreicher Sprache. Alle stimmten darin überein, daß ein Engländer, ein Tourist, diesem Mädchen öffentlich den Hof gemacht habe. Das war allerdings vom Standpunkt eines Europäers aus keine große Beleidigung. Ein Chinese war dazwischengetreten, dann hatte es einen allgemeinen Aufruhr gegeben.
Tarling las alle Zeitungsausschnitte von Anfang bis Ende durch, legte sie dann wieder sorgsam in den Umschlag zurück und steckte diesen in den Lackkasten. Er packte alles wieder so vorsichtig wie möglich ein, legte es genauso hin, wie er es herausgenommen hatte, verschloß den schwarzen Kasten und stellte ihn unter das Bett. Er versuchte sich ein Bild der ganzen Vorgänge zu machen. Ling Chu hatte Thornton Lyne gesehen und ihm Rache geschworen. Tarlings Revolver zu entwenden war eine leichte Sache. Aber warum hatte er die Waffe am Tatort zurückgelassen, wenn er Lyne ermordete? Das sah Ling Chu nicht ähnlich, so konnte nur ein Laie handeln.
Und wie mochte es ihm gelungen sein, Thornton Lyne in die Wohnung zu locken? Wie konnte er wissen - plötzlich kam Tarling ein Gedanke.
Noch kurz vor dem Mord hatte Ling Chu mit ihm über die Unterredung in dem Privatbüro Lynes gesprochen. Er hatte damals die Situation klar erkannt. Ling Chu wußte, daß Thornton Lyne in Odette verliebt war und sie haben wollte. Es wäre nicht weiter verwunderlich gewesen, wenn er die Kenntnisse zu seinem eigenen Vorteil ausgenutzt hätte.
Aber das Telegramm, das Lyne in die Wohnung bringen sollte, war englisch abgefaßt, und Ling Chu verstand doch diese Sprache kaum. Hier kam Tarling wieder auf den toten Punkt. Obwohl er diesem Chinesen sein eigenes Leben anvertrauen konnte, war er sich vollkommen darüber klar, daß er ihm nicht alles offenbarte, was er wußte. Es war leicht möglich, daß Ling Chu die englische Sprache genausogut beherrschte wie seine Muttersprache und die ändern hauptsächlichen Dialekte von China.
»Ich gebe es auf«, sagte Tarling verzweifelt zu sich selbst. Er war unentschlossen, ob er auf die Rückkehr seines Assistenten warten und ihm das Verbrechen auf den Kopf zusagen oder ob er die Sache einige Tage ruhig gehen lassen und erst Odette Rider besuchen sollte. Er entschied sich für das letztere, hinterließ eine kurze Notiz für Ling Chu und war eine Viertelstunde später schon in dem kleinen Hotel angekommen.
Odette Rider wartete auf ihn. Sie sah blaß und müde aus, als ob sie in der vergangenen Nacht wenig geschlafen hätte, aber sie grüßte ihn mit dem freundlichen Lächeln, das er an ihr kannte. »Ich kann Ihnen die angenehme Nachricht bringen, daß Sie nicht nach Scotland Yard gehen müssen und Ihnen das Verhör dort erspart bleibt«, sagte er lachend. Er las in ihren Augen, wie sehr sie sich über diese Mitteilung freute.
»Sind Sie heute morgen spazierengegangen?« fragte er in aller Unschuld. Aber über diese Frage mußte sie lachen.
»Sie wissen doch ganz genau, daß ich nicht ausgegangen bin, ebenso wissen Sie, daß drei Detektive von Scotland Yard das Hotel bewachen. Die Leute würden mir doch unweigerlich auf dem Fuß folgen, wenn ich das Hotel verließe und einen Spaziergang machte.«
»Woher haben Sie denn das erfahren?« fragte er, ohne die Tatsache zu leugnen.
»Weil ich ausgegangen bin«, sagte sie naiv und lachte wieder. »Sie sind wirklich nicht so schlau, wie ich annahm. Ich erwartete
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