014 - Das Geheimnis der gelben Narzissen
sprachen nämlich über die Möglichkeit, daß Miss Rider den Mord begangen haben könnte, und Ling Chu erwähnte, daß sie nicht imstande sei, ein Automobil zu fahren. Als ich ihn fragte, woher er das wüßte, erzählte er, daß er in der Firma selbst Nachforschungen angestellt hätte. Ich wußte vorher nichts davon. Hinzu kommt noch eine andere merkwürdige Tatsache«, fuhr Tarling fort. »Ich hatte immer den Eindruck, daß Ling Chu nicht englisch sprechen könne, höchstens ein paar Worte Pidgin-Englisch, wie es die Chinesen dort unten in den Häfen sprechen, ein merkwürdiges Kauderwelsch. Aber er hat seine Nachforschungen in Lynes Warenhaus unter den Angestellten gemacht. Und man kann eine Million gegen eins wetten, daß er dort keine Verkäuferin gefunden hat, die kantonesisch spricht!«
»Ich werde ihn durch zwei Leute überwachen lassen«, meinte Whiteside, aber Tarling schüttelte den Kopf.
»Das würde eine unnötige Verschwendung von Kraft und Zeit sein, denn Ling Chu versteht es besser, solche Leute in die Irre zu führen, als irgendein Europäer. Er ist ein besserer Spürhund als irgend jemand, den wir in Scotland Yard haben, und er hat eine ganz besondere Begabung dafür, zu verschwinden oder sich unsichtbar zu machen, wenn Sie ihn beobachten. Überlassen Sie Ling Chu nur mir. Ich weiß mit ihm umzugehen«, fügte er grimmig hinzu.
»Die kleine Narzisse«, sagte Whiteside nachdenklich. »Das war doch der Name der kleinen Chinesin? Sollte das nicht mehr als nur ein bloßer Zufall sein? Was denken Sie darüber, Tarling?«
»Es kann sein und kann auch nicht sein«, sagte Tarling vorsichtig. »Es gibt im Chinesischen kein besonderes Wort für diese Blume. Und ich weiß nicht, ob die gelbe Narzisse in China heimisch ist. Aber China ist ja ein großes Land, und es wäre immerhin möglich. Es könnte tatsächlich mehr als eine bloße Zufälligkeit sein, daß der Mann, der das Mädchen so schwer beleidigte, ermordet wurde, während ihr Bruder in London ist.«
Während sie sprachen, überschritten sie die breite Fahrstraße und gingen in den Hydepark. Auf Tarling übte der Park merkwürdigerweise dieselbe Anziehungskraft aus wie auf Mr. Milburgh.
»Warum wollten Sie mich eigentlich sehen?« fragte er plötzlich, als er sich daran erinnerte, daß Whiteside auf dem Weg zum Hotel war, als sie sich trafen.
»Ich möchte Ihnen den letzten Bericht über Milburgh geben.«
Also wieder Milburgh! Alle Gespräche, alle Gedanken, alle Anzeichen führten zu diesem geheimnisvollen Mann. Was Whiteside erzählen konnte, war jedoch nicht besonders aufregend.
Man hatte Milburgh Tag und Nacht beobachtet, und der Bericht über ihn war sehr prosaisch.
Aber es ist eine Erfahrungstatsache, daß man aus unscheinbaren Anlässen manchmal weittragende Schlußfolgerungen ziehen kann.
»Ich weiß nicht, was Milburgh von dem Ausgang der Bücherrevision erwartet« ,sagte Whiteside, »offensichtlich ist er sehr daran interessiert oder erwartet, daß er dadurch verdächtigt werden könnte.«
»Wie kommen Sie darauf?« fragte Tarling. »Er kaufte große Geschäftsbücher.« Tarling lachte.
»Das ist doch wohl keine strafwürdige Handlung«, meinte er. »Was waren es denn für Geschäftsbücher?«
»Es waren diese ganz großen, schweren Hauptbücher, wie sie nur in den allergrößten Geschäften gebraucht werden. Sie sind so schwer, daß ein Mann sie gerade noch tragen kann. Er hat merkwürdigerweise drei solche Folianten in der City Road gekauft und sie dann in einem Mietauto in seine Privatwohnung gebracht. Ich vermute nun«, sagte Whiteside ernst, »daß dieser Mann kein gewöhnlicher Verbrecher ist, wenn man ihm überhaupt ein Verbrechen nachweisen kann. Es ist möglich, daß er zu Hause doppelte Bücher führt.«
»Das ist nicht sehr wahrscheinlich«, unterbrach ihn Tarling. »Ich sage das, obwohl ich vor Ihrem Scharfsinn die größte Hochachtung habe. Es gehört mehr als Menschenkraft dazu, all die vielen Einzelheiten solch eines Riesengeschäftes im Kopf zu behalten. Es ist eher anzunehmen, daß er die Absicht hat, zu einer anderen Firma zu gehen oder ein eigenes Geschäft anzufangen. Immerhin ist es kein Verbrechen, ein dickes Geschäftsbuch oder drei solche Bände zu besitzen. Wann hat er sie denn gekauft?«
»Gestern morgen in aller Frühe, bevor die Firma Lyne geöffnet wurde - haben Sie irgendwelche Neuigkeiten durch das Gespräch mit Miss Rider erfahren?«
Tarling zuckte die Schultern. Er fühlte eine heftige
Weitere Kostenlose Bücher