0141 - Der hinkende Mörder
ging?«
»Ich habe niemanden gesehen. Ich kümmere mich nicht um andere Leute«, knurrte er, und seine Frau echote:
»Wir kümmern uns nicht um andere Leute.«
Damit schien die Sache für sie erledigt zu sein, aber nicht für das kleine Mädel.
»Ich habe ihn gesehen«, piepste sie. »Er kam von da drüben, wo die Weiden stehen, und ging in Richtung der Stadt. Er war groß, und er hinkte.«
»Phantasiere nicht, Alma«, fuhr ihr Vater sie an.
»Ich habe ihn aber doch gesehen. Er ging so wie Onkel Sam, dem sie im Krieg das Bein kaputt geschossen haben.«
»Sam ist mein Bruder«, erklärte die Frau.
»Aber es war nicht Onkel Sam«, quakte die Kleine weiter. »Es war ein fremder Mann. Er war sehr schmutzig und hatte keinen Hut auf.«
»Weißt du noch, wann das war?«
»An dem Tag, an dem es ganz laut knallte und Mutti mir sagte, ein Flugzeug sei vom Himmel gefallen.«
»War es vorher oder nachher?« fragte ich weiter.
Ich hatte das Gefühl, auf einer richtigen Fährte zu sein.
»Eine ganze Zeit lang, nachdem es gebumst hatte.«
»Und dieser Mann ging nach Holdcroft?«
»Ja; da hinten durch die Wiese, da wo immer die jungen Enten sind.«
»Kannst du mir nicht etwas genauer sagen, wie er aussah?«
Das kleine Mädchen steckte den Finger in die Nase und überlegte angestrengt.
»Er war groß und schmutzig. Er hinkte und hatte keinen Hut auf.«
»Weisst du sonst gar nichts? Was hatte er für Haare?«
»Ich weiß es nicht.«
»Alma ist eine große Märchenerzählerin«, sage ihr Vater. »Ich gebe mir die größte Mühe ihr diese Phantastereien auszutreiben, aber sie macht aus allem eine große Geschichte.«
»Es war aber genauso, wie ich gesagt habe«, sagte die Kleine entrüstet. »Du sagst immer, ich schwindele, Daddy, aber ich schwindele nicht. Ich sehe nur mehr als du.«
»Halte jetzt endlich den Mund«, sagte er grob. »Und im übrigen, G-man, will ich nicht versäumen, Ihnen nochmals zu sagen, dass ich von Almas Geschichten regelmäßig fünfzig Prozent abziehe. Dann ist es immer noch eine Frage, ob sie sich die andere Hälfte nicht auch zusammenphantasiert hat.«
Die Kleine war beleidigt, und außerdem schämte sie sich. Gleich würde sie anfangen zu weinen, und das wollte ich auch nicht. Ich jedenfalls glaubte ihr. Ihr Vater war ein schlechter Psychologe. Wenn sie hätte schwindeln wollen, so hätte sie ihre Erzählung nach Kinderart ausgeschmückt, aber gerade das tat sie nicht.
»Was meinst du, wie alt der Mann gewesen sein könnte?« bohrte ich. »Ungefähr so alt wie dein Daddy, oder vielleicht viel älter?«
»Nein, er war bestimmt nicht älter als Daddy« Sie blickte ihren Vater ganz ernsthaft an. »Ich glaube sogar, dass er jünger war. Wenn er nur nicht so schmutzig gewesen wäre. Er muss irgendwo in den Sumpf gefallen sein. Wenn ich in den Sumpf falle, dann schimpft Mutti, und Daddy haut.«
Ich hatte den Eindruck, dass sich nach meinem Weggehen ein Unwetter über das Köpfchen der Kleinen entladen werde. Der Vater war einer jener ulkigen Zeitgenossen, die jeden Kontakt mit der Polizei ängstlich vermeiden. Gleichgültig, ob sie einen Grund dazu haben oder nicht.
Ich wollte ihr schon im Voraus ein Trostpflästerchen geben und fragte:
»Hast du eine Sparbüchse, Alma?«
Sie rannte und holte ein kleines Schwein aus Ton von der Anrichte. Ich steckte ihr zwei Silberdollars hinein, obwohl ihr Vater dagegen protestierte.
»Wenn es wirklich stimmt, was du mir gesagt hast, so bekommst du noch eine Handvoll Dollar dazu.«
»Eine ganze Handvoll«, staunte sie. »Soooo viel?«
Das, was sie da andeutete, wäre schon ein kleiner Korb voll gewesen, aber ich machte ihr das Vergnügen, ja zu sagen.
Als ich in das Hotel mit dem hochtrabenden Namen zurückkehrte, wartete Rainey schon sehnsüchtig auf mich. Er schien meiner Erzählung von dem hinkenden Mann nicht viel Bedeutung beizumessen. Er meinte, und das nicht ganz zu Unrecht, Zeugen im Allgemeinen seien unzuverlässig und Kinder insbesondere. Darüber gingen unsere Ansichten allerdings auseinander. Ich wusste, wie skeptisch man den Zeugenaussagen erwachsener Menschen gegenüberstehen muss, aber wenn es sich um Kinder handelte, so hatte ich meistens erlebt, dass sie, wenigstens subjektiv, bei der Wahrheit blieben. Man muss sich nur in die kindliche Seele versetzen und sich überlegen, was das, was sie aussagen, von ihrem Standpunkt aus, zu bedeuten hat.
Alma war recht klar und deutlich gewesen. Sie hatte gesagt, dass der Mann hinkte, und
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