016 - 30 Meilen unter dem Meer
Trübsal oder Furcht sie geplagt hatte…
Jetzt schloss Samia ihre Faust um den Anhänger. Die spitzen Balkenenden stachen in ihre Handfläche. Aber es tat nicht weh. Im Gegenteil begrüßte sie das Gefühl, denn es lenkte sie ab von, der Wirklichkeit, lotste ihre Gedanken an einen besseren Ort. Einmal mehr tat das Familienerbstück seine wundersame Wirkung.
Samia spürte die Nähe ihrer Mörder. Sie roch den stinkenden Atem aus ihren Mäulern, der wie Nebel über sie kam. Aber die junge Frau hielt die Augen fest geschlossen und empfand eine Ruhe wie in tiefem Schlaf.
Trotzdem waren die Schmerzen, bei lebendigem Leibe zerrissen und gefressen zu werden, furchtbar!
Aber Samia ertrug sie mit einem (wie sie meinte) ganz ähnlichen Ausdruck im Gesicht wie jener Mann, dessen Abbild sie fest hielt - bis zuletzt…
***
»Nach Caalaj wollt ihr?!«
Der verschrobene Alte hatte gelacht, aber es war nicht ein Fünkchen Belustigung darin gewesen. Und in seinen eisgrauen Augen glomm etwas, das selbst Matthew Drax einen Schauder über den Rücken gejagt hatte.
»Ihr müsst von Sinnen sein«, hatte der alte Jäger dann gesagt.
»Was sucht ihr dort? Das Ende der Welt?« Er hatte abgewunken. »Dann spart euch den Weg. Ich kann euch versichern, dass ihrs dort finden werdet - und wenn die Götter euch nicht wohlgesonnen sind, dann zeigen sie euch in Caalaj obendrein noch die Pforten der Hölle!«
Vor drei Tagen waren Matt Drax und seine Gefährtin Aruula dem wandernden Jäger begegnet und hatten seine Einladung ans Feuer angenommen. Die halbe Nacht hindurch hatte er ihnen von Caalaj erzählt, eine Geschichte schauriger als die andere.
Jetzt, da Matt und Aruula das einstige Calais erreichten, mussten sie eingestehen, dass der alte Mann zumindest in einem Punkt nicht übertrieben hatte: Über der früheren französischen Küstenstadt tobte ein Unwetter, als hätte nicht nur der Himmel alle Schleusen, sondern auch die Hölle sämtliche Pforten geöffnet!
In der Luft lag ein Brüllen wie von Horden urzeitlicher Tiere, die in Panik geraten waren. Sturmwind riss wie mit unsichtbaren Händen an allem, was nicht fest verankert war. Der Regen fiel so dicht, dass man meinte, gegen Wände aus Wasser anzugehen. Donner und Blitz lösten einander nicht ab, sondern gingen unaufhörlich ineinander über, ohrenbetäubend laut und gleißend hell. Und Hagelkörner, groß wie Fäuste, prügelten gleichsam auf Matt und Aruula sowie den Frekkeuscher ein, der ihnen zum Reiten diente.
»Das Schlachtfeld der Götter…«
Aruula saß hinter Matt auf dem Rücken der Riesenheuschrecke. Ihre Arme lagen um seine Hüften. Er spürte den Druck ihrer vollen Brüste im Kreuz und merkte, dass die schöne Barbarin eine Gänsehaut bekam, als sie die Worte des alten Jägers wiederholte.
So hatte er Caalaj genannt Schlachtfeld der Götter. Den Ort, an dem die Allgewaltigen ihrem Zorn freien Lauf ließen. Wo sie sich vorbereiteten auf Kämpfe unter ihresgleichen. Ein Ort, an dem Menschen nichts verloren hatten - nur zu verlieren…
Matt glaubte nicht daran, nicht einmal jetzt, da dieses sturmgebeutelte Fleckchen Erde vor ihm lag und er mitten in einem Unwetter steckte, wie er noch keines erlebt hatte. Nicht einmal der Tornado, der Quer durch Kansas gefegt war, als Matt dort im Kindesalter Verwandte besucht hatte, konnte mit der Gewalt dieses Sturmes mithalten.
Aber auch wenn er sich im Gegensatz zu Aruula nicht von irgendwelchen Legenden über Götter beeindrucken ließ, musste sich Matt Drax doch eingestehen, dass dieser Sturm ihn das Fürchten lehrte - oder ihm zumindest Respekt einflößte vor der Naturgewalt. Wenn hier öfters ein solches Wetter herrschte, war es kein Wunder, dass die Gegend verrufen war…
»Wir brauchen einen Unterschlupf!«, brüllte er gegen den Sturm an. Der fauchende Wind riss ihm die Worte von den Lippen und wollte ihm zugleich noch den Atem rauben.
»Lass uns umkehren, Maddrax!«, schrie Aruula zurück. Sie presste sich noch fester gegen ihn. »Vielleicht kehrt dann Friede unter den Göttern ein!«
Matt hatte Aruula als tapfer und kämpferisch kennen gelernt - solange es gegen Feinde ging, die sich mit Schwert oder List besiegen ließen. Kamen jedoch vermeintlich göttliche Mächte ins Spiel, dann schlug bisweilen der Aberglaube ihres Volkes in der Barbarin durch. Zumal wenn sich diese Gewalten so eindrucksvoll in Szene setzten wie hier und jetzt.
»Kommt nicht in Frage!«, erwiderte Matt und schüttelte demonstrativ den Kopf.
Weitere Kostenlose Bücher