016 - Herrin der Woelfe
auf diesem Hof hier. Deshalb rate ich Ihnen, halten Sie ihn vor törichten Absichten zurück. Er gehorcht Ihnen nicht – das wäre gegen seine Natur, einem Menschen zu gehorchen –, aber er hört auf Sie, auf Ihren Rat.«
Erstaunt fragte sie: »Sie meinen, ein Wolf hört auf meinen Rat? Klingt das nicht ein bisschen absurd?«
Er ging nicht auf ihre Frage ein. Stattdessen sagte er: »Ich habe ein paar Berechnungen angestellt. Damals, vor fünfzehn Jahren, als Sie mit Ihrem Vater und Ihrer Freundin in den Zoo gingen, war Vollmond, als der weiße Wolf auftauchte.«
Sie schüttelte den Kopf. »Aber wir waren am späten Nachmittag im Zoo.«
Er nickte. »Das ist mir bekannt. Es passierte kurz vor achtzehn Uhr. Mondaufgang war an diesem Tag kurz nach fünfzehn Uhr.«
Sie wollte etwas erwidern, fand aber keine Worte.
»Sicher haben Sie diesen Traum stets nur nach Mondaufgang«, fuhr er fort. »Das kann ruhig am hellen Tag sein, nicht wahr?«
»Ja, manchmal, wenn ich müde bin. Er kommt immer nur bei zunehmendem Mond und ist am lebhaftesten in der Vollmondnacht. Danach ist alles wie weggewischt. Mein Psychiater nannte es daher Mondsucht.«
Er machte eine wegwerfende Geste. »Mondsucht! Ich will Sie Ihre eigenen Schlüsse ziehen lassen, bevor ich Ihnen meine offenbare. Wie Sie sich denken können, bin ich nicht zufällig in dieser Stadt. Ich habe mich hier niedergelassen, weil ich herausfand, dass hier in regelmäßigen Abständen Menschen spurlos verschwinden. In monatlichen Abständen. Nicht jeden Monat natürlich. Manchmal sind es Fremde, die hier nicht vermisst werden. Der weiße Wolf ist klüger geworden, in diesen Jahren, aber für mich ist die Spur immer noch deutlich genug. Er hat sich in den zweieinhalb Jahren, die er hier in der Stadt ist, kein einziges Mal überraschen lassen. Und er hat seine Spuren erstaunlich gründlich beseitigt – zu gründlich für einen Wolf. Sind Sie nicht besonders müde in den Vollmondnächten, wenn Sie aus Ihrem Traum erwachen?«
Er schrie diese Worte fast.
»Ja«, stammelte sie. »Aber was wollen Sie damit sagen?«
Sie sah ihn kreidebleich an.
»Dass Sie in den Vollmondnächten nicht träumen, sondern erleben«, erklärte er ruhig.
Verständnislos starrt sie ihn an. »Sie glauben, ich erlebe, wie dieser Wolf Menschen anfällt? Das ist …«
Er schüttelte den Kopf. »Sie wollen mich nicht verstehen. Sie sind nicht der Zuschauer. Sie waren auch vor fünfzehn Jahren nicht der Zuschauer. Sie morden. Sie haben die kleine Hedi umgebracht und all die anderen. Besser gesagt, nicht Sie, sondern Ihre zweite Natur, Ihr anderes Ich, das tatsächlich so etwas wie mondsüchtig ist.«
»Ich habe sie umgebracht«, kam es tonlos von ihren Lippen.
»Mein – was?«
»Ihr anderes Ich«, erklärte er geduldig. »Der Wolf in Ihnen, den Cuon genau fühlt.«
Seine Erklärung ließ sie die heftige Erwiderung vergessen, die ihr auf der Zunge lag.
»Sie sind ja verrückt«, flüsterte sie nur.
»Ich weiß, wovon ich rede«, stellte er ruhig fest. »Hier!« Er begab sich zu den Bücherregalen, und nahm einen dicken Band heraus. »Studieren Sie das, und denken Sie eine Weile nach!
Ich bin sicher, das Buch wird Ihnen eine Reihe von Anregungen geben. Sie brauchen nicht lange zu suchen. Ich habe mir erlaubt, die entscheidende Stelle zu markieren. Wenn Ihnen Fragen auf der Zunge brennen, ich bin in der Nähe.«
Sie sah ihm nach, als er das Zimmer verließ. Dann starrte sie auf das Buch.
Handbuch des deutschen Aberglaubens U-Z.
Ihre Verwunderung wuchs. Sie sah einen Streifen Papier zwischen den Seiten herausragen. Kopfschüttelnd schlug sie das Buch auf. Was konnte sie über Wölfe in einem Lexikon über Aberglauben finden?
Sie überflog die Spalten, und die Buchstaben verschwammen ihr plötzlich vor den Augen, als sie auf das Stichwort stieß:
Werwolf.
Es war verrückt – und dennoch. Wenn man erst einmal darüber nachzudenken begann …
War so etwas wie ein Funken Wahrheit in den alten Legenden? Ein Funken Magie in der nüchternen wissenschaftlichen Welt?
Der Samstag verging. Ebenso der Sonntag. Nichts geschah, aber sie hörte nie auf zu grübeln.
Woiew fuhr am Montag nicht in die Stadt. Das Futter für die Tiere wurde geliefert und im Kühlhaus aufbewahrt.
Woiew war überzeugt von seiner Idee, von seiner verflixten Idee, und sie begann nach Möglichkeiten zu suchen, sie zu entkräften.
Der Traum wurde stärker mit jedem Tag. Wie nie zuvor fing sie an, auf die genauen
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