016 - Herrin der Woelfe
Zeitpunkte zu achten. Tatsächlich kam der Traum nur während der Aufgangszeiten, niemals nach dem Untergang. Unbewusst begann sie, ihr Leben einzuteilen und die Zeiten, wenn der Mond untergegangen war, besser zu nützen; zum Schlafen vor allem. Je wacher sie während der Traumperiode war, umso weniger anfällig war sie für den Traum. Es würde nur noch selten geschehen, dass der Traum sie unvorbereitet traf.
Cuon blieb ihr gleichmäßig ergeben, und die anderen Wölfe akzeptierten es. Sie gewöhnten sich an ihre Anwesenheit auf dem Hof und belästigten sie nicht, aber sie beobachteten sie.
Manchmal schien es ihr, als warteten sie auf etwas. Sie verlor ihre instinktive Angst vor den wilden Tieren, und sie las viel über sie und lernte sie besser verstehen.
Alexis bediente sie mit beinahe cuonischer Ergebenheit. Er wurde zwar nicht gesprächiger, aber sie war bald sicher, dass er sich eher selbst vor die Wölfe stürzte als sie noch einmal stoßen würde.
Karel Woiew hingegen vermochte sie nicht für sich zu gewinnen. Wenigstens vorerst nicht. Er fand in ihr ein ebenso interessantes Studienobjekt wie sie in ihm. Deutlich stand Cuon zwischen ihnen, aber sie verstand nicht, warum. Auf eine seltsame Art schien er eifersüchtig. Woiew sprach nie mit ihr, wenn Cuon dabei war. Und Cuon andererseits überließ die Entscheidung ihr. Sie fühlte es ganz deutlich. Er zog sich nur zurück, wenn er erkannte, dass es ihr Wunsch war.
Cuons Verhalten wurde ihr ein wenig unheimlich, vor allem, wenn sie an die Zukunft dachte. Aber sie vermied es tunlichst, an die Zukunft zu denken.
Verbissen arbeitete sie an ihrem Artikel. Es war schwieriger, als sie gedacht hatte, obwohl Woiew ihre Fragen bereitwillig beantwortete, wenn sie ihn bedrängte. Er war kooperativ und um sie bemüht, obwohl keinerlei gefühlsmäßige Bindung zwischen ihnen bestand. Auch er wartete. Immer deutlicher kam ihr zu Bewusstsein: Alle um sie warteten.
Aber worauf?
Und sie selbst? Sie war mit einemmal nicht mehr sicher, dass sie nicht ebenfalls wartete.
Natürlich stellte sie ihn zur Rede.
»Ein Werwolf? Herr Woiew, ich mag verrückt sein, aber so verrückt auch wieder nicht. Wer glaubt in unserem aufgeklärten Jahrhundert schon an so etwas?«
Er antwortete nur: »Gott sei Dank niemand.«
Und das stimmte sie nachdenklicher.
Dienstag Nacht.
Sie erwartete den Traum beinahe. Gespannt beobachtete sie den fast vollen Mond am Himmel durch das weit geöffnete Fenster. Sie war hellwach. Zu wach. Der Traum würde nicht kommen ohne ihre Bereitschaft. Aber sie wusste, dass er kommen würde mit dem Schlaf. Er kam immer, wenn der Mond am Himmel stand.
Warum nicht nachhelfen?
Der Gedanke ließ sie nicht mehr los. Sie entspannte sich, versuchte an nichts zu denken – einfach hinüberzudämmern in den Zustand des Schlummers.
Sie stand im Wald. Das Licht des Vollmondes fiel durch die hohen Wipfel auf den Weg.
Sie erstarrte, und das Traumbild zerfloss. Zitternd setzte sie sich auf.
Es ging. Es war möglich. Sie konnte den Zustand herbeiführen, in dem sie alle Abwehr aufgab und sich willenlos dem Traum überließ. Und mit ein klein wenig Willensanstrengung konnte sie auch wieder aufwachen. Der Traum kam nicht mehr überraschend.
Sie wappnete sich. Aber es war schwer, sich zu wappnen und gleichzeitig zu entspannen. Endlich – endlich kam die Schwerelosigkeit des Entspanntseins.
Schritte näherten sich. Die Dunkelheit des Waldes lag vor ihr wie eine schwarze Wand. Sie blickte auf und sah Wolken vor dem Mond. Etwas quälte sie. War es Hunger?
Die Schritte waren ganz nah. Eine Gestalt tauchte auf. Sie vermochte das Gesicht nicht zu sehen, aber es war einerlei. Sie hatte das Gefühl, dass etwas Schreckliches geschehen würde –
aber es war nur ein flüchtiger Gedanke, der rasch verflog.
Als das Knurren erklang …
Sie atmete heftig, erkannte aber erleichtert, dass die vertrauten Konturen des Zimmers um sie waren. Es war schwer, Traum und Realität zu unterscheiden.
Jetzt war sie wach. Aber nicht genug. Sie spürte, wie der Traum wieder nach ihr griff, wie sie zurückfiel – hinabtauchte und eine schimmernde, feuchte, unförmige Masse vor sich sah, in der sie mit den Händen wühlte, und die sich wie zuckendes, warmes Fleisch anfühlte und ihr den ekligen Geruch von Blut in die Nase trieb.
Diesmal fand sie schreiend in die Realität zurück. Schreiend und vom, alten Entsetzen gepackt. So deutlich war alles gewesen, das Gefühl, der Anblick, der
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