0161 - Zuletzt wimmern sie alle
Sheers war tot, weil ich sie tot gesehen hatte, weil der Arzt der Mordkommission die Todesursache an diesem Leichnam festgestellt hatte und weil dieser Leichnam beerdigt worden war.
Zögernd und in Gedanken versunken ging ich durch das Zimmer. Auf der Kommode lag ein dicker Band. Ich schlug ihn auf.
Das Fotoalbum.
Lauter Bilder von Raila Sheers. Bilder aus der Universität, Bilder aus dem Privatleben. Im Zoo im Central Park, in einem Tanzlokal inmitten einer ausgelassenen Runde, Bilder, Bilder, Bilder…
Bilder eines Mädchens, das ein brutaler Kerl umgebracht hatte, weil ihm irgendeiner ein paar lumpige Dollars dafür bezahlt hatte.
Ich klappte das Album wieder zu und stand auf.
Etwas in diesem Zimmer war anders. Ich hatte das die ganze Zeit gespürt. Ich habe einen Instinkt für solche Sachen. Und- dieser Instinkt sagte mir, daß hier irgend etwas verändert war. , Aber was?
Die Möbel standen alle noch an ihrer alten Stelle. Sogar der Vorhang vor dem Fenster war noch genauso halb zugezogen wie in jener Nacht, da ich die Tote entdeckt hatte.
Unruhig streifte ich durch den Raum. Was war hier anders?
Ich zog spielerisch die oberste Schublade der Kommode heraus.
Wäschestapel lagen darin.
Aber die Schublade war nur halbhoch gefüllt.
Und in den Protokollen der Mordkommission, die den ganzen Raum genauestens durchsucht hatte, stand deutlich: Schubladen mit Wäsche bis an den Rand gefüllt. Bis an den Rand! So etwas wird bei einer Mordkommission millimetergenau genommen. Mich packte das Jagdfieber.
Ich zog die zweite Schublade auf.
Hier fehlte nichts.
Die unterste Schublade war fast leer.
Ich riß die Türen des breiten Kleiderschrankes auf.
Mindestens die Hälfte der Kleider fehlte. Ich prüfte die Wäschefächer. Auch hier fehlte eine gehörige Portion der Stapel, die hier vorhanden gewesen waren.
Jetzt wußte ich auch, was meinen Argwohn geweckt hatte. Unter dem Spiegel am Waschbecken standen zwei Zahnputzbecher mit je einer Zahnbürste.
Hatten gestanden!
In der Nacht, als ich die Tote gefunden hatte.
Jetzt gab es nur noch ein Glas mit einer Zahnbürste. Das war die Veränderung im Raum gewesen, die mir schon rein instinktiv aufgefallen war.
Ich prüfte alles gründlich durch. Ich sah bei jedem Kleid auf die Größennummer, die mit einem kleinen Stoffstückchen innen festgenäht war. Ich sah die Schuhe nach und die Wäsche. Und dann wußte ich es: Schuhe, Wäsche und Kleider dieses rätselhaften zweiten Mädchens, das hier mitgewohnt haben mußte, obgleich es niemand gesehen haben wollte, alle die Besitztümer dieses mysteriösen zweiten Mädchens waren hier herausgeholt worden.
Warum?
Von wem?
Und warum war der Abholer heimlich, unter Verletzung des Polizeisiegels hier eingedrungen? Warum war er nicht zu uns gekommen und hatte gesagt: Bitte schön, das und das gehört mir und nicht der Toten, darf ich meine Sachen herausholen?
Hatte dieser Abholer etwa Angst vor der Polizei? Oder etwas vor ihr zu verbergen? Oder…
Mir stockte der Atem. Plötzlich war mir der erregendste Gedanke dieser Nacht gekommen.
Jack Ollegan hatte Raila Sheers ermordet, das wußten wir. Er hatte es im Aufträge einer unbekannten Person getan. Auch das wußten wir. Nur den Auftraggeber hatten wir nicht finden können.
Obgleich wir die Umgebung von Raila Sheers buchstäblich unter die Lupe genommen hatten. Alle ihre Bekannten in der Universität, in dem Lokal, in dem sie sich manchmal ein paar Dollars als Aushilfsserviererin verdient hatte, und überall sonst hatten wir geprüft. Alle Leute, die in den letzten zwei Jahren mit Raila Sheers zusammengekommen waren, hatten wir uns kritisch betrachtet.
Nur eine Person nicht: das Mädchen, das mit ihr das Zimmer geteilt hatte. Das Mädchen, das seit dem Augenblick verschwunden war, seit Raila Sheers ermordet wurde. War hier der Schlüssel des Rätsels?
***
Es war nachts gegen zwei Uhr, als ich zurückfuhr. Ein Stück mußte ich dabei den Broadway benutzen, und als ich zufällig einmal nach rechts blickte, wo eine überdimensionale Lichtreklame den Blick anzog, sah ich einen Bekannten.
Mister Stetson, der Mann, den Ollegan im Park überfallen hatte, dieser selbe Mister Stetson stand vor der Tür eines sündhaft teuren Nachtlokals. Bei ihm hatte sich ein Mädchen eingehakt, das ein Kleid aus einem Stoff trug, der Goldbrokat zu sein schien. Eines dieser hautengen Abendkleider, die Hollywood bei uns bekanntgemacht hat. Das Mädchen sah ebenso teuer aus wie das Lokal, vor
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