017 - Der Engel des Schreckens
unterdrücken konnte. Sie stand wieder auf, schaltete das Licht aus und trat ans Fenster. Sie wußte, dort unten in der Dunkelheit war ihr Feind.
»Ich fange an, meine Fassung zu verlieren«, murmelte sie.
Es erschien Lydia Meredith unbegreiflich, daß im Äußeren Jean Briggerlands nichts von den Abenteuern in der Nacht zu bemerken war, als sie am nächsten Morgen zum Frühstück herunterkam. Ihre Augen waren klar, ihr Gesicht rosig wie gewöhnlich und ihre feine Ironie genauso witzig wie sonst.
Lydia badete an diesem Morgen nicht, und Mr. Stepney hatte seine Fahrt nach Cap Martin vergebens gemacht.
Ebensowenig hatte sie Neigung, mit ihm zusammen am Nachmittag das Kasino zu besuchen, und Marcus Stepney fing an, sich langsam klarzumachen, daß er seine Zeit unnütz vergeudete.
Jean fand Lydia im Garten. Das junge Mädchen schrieb eifrig und machte auch kein Hehl aus der Art ihrer Arbeit.
»Sie setzen ein Testament auf? Was für ein schrecklicher Gedanke!« sagte Jean und stellte die Tasse Tee, die sie Lydia herausgebracht hatte, auf den Tisch.
»Nicht wahr?« Lydia verzog das Gesicht. »Und noch dazu eine so mühselige Arbeit, Jean. Mit Ausnahme von Ihnen und Mr. Glover kenne ich niemand, dem ich mein Geld hinterlassen möchte.«
»Um Himmels willen, nur mir nicht, sonst denkt vielleicht Jack, daß ich alles versuche, um Ihnen ein vorzeitiges Ende zu verschaffen«, lachte Jean. »Aber warum wollen Sie überhaupt ein Testament machen?«
Die Frage war unnötig, aber Jean war neugierig, welche Antwort sie erhalten würde. Zu ihrer Überraschung wich Lydia der Frage aus.
»Das macht man doch in allen guten Kreisen«, sagte Lydia gutgelaunt. »Aber das Schlimme ist, ich habe nicht das geringste Interesse für irgendeine wohltätige Stiftung. Ich kenne nicht einmal den Namen eines Hundeheimes und möchte übrigens, auch wenn ich ihn wüßte, mein Geld einem solchen Unternehmen nicht verschreiben.«
»Setzen Sie doch Jack Glover als Erben ein«, riet Jean, »oder vielleicht die Rettungsbootgesellschaft.«
Lydia warf mißmutig den Federhalter auf den Tisch.
»Was für ein Unsinn, an solch einem wunderbaren Tag ein Testament aufzusetzen und Anweisungen zu geben, wo man beerdigt zu werden wünscht. Brrr ... Jean«, fragte sie plötzlich, »war es Mr. Jaggs, den Sie im Garten gesehen hatten?«
Jean schüttelte den Kopf.
»Ich habe niemand gesehen. Ich war auf der Suche nach dem Einbrecher; die Aufregung muß etwas zu groß für mich gewesen sein, und ich fiel dummerweise in Ohnmacht.«
Aber Lydia war noch nicht zufriedengestellt.
»Ich verstehe Mr. Jaggs selbst nicht«, begann sie, aber Jean unterbrach sie mit einem leichten Aufschrei.
Lydia blickte auf und sah, wie ihre Augen blitzten und ihre Lippen sich in einem leichten Lächeln kräuselten.
»Aber natürlich«, sagte Jean halblaut. »Er schlief doch regelmäßig in Ihrer Wohnung, stimmt das nicht?«
»Ja, warum?« fragte Lydia überrascht.
»Oh, was für eine Närrin ich bin, was für eine unglaubliche Närrin!« rief Jean, die einen Augenblick ihre gewohnte Ruhe verlor.
»Ich sehe zwar nicht ein, warum Sie eine Närrin sein wollen, aber vielleicht erzählen Sie es mir.«
Aber Jean lachte statt jeder Antwort.
»Lassen Sie sich nicht stören und machen Sie Ihr Testament fertig, und wenn Sie das hinter sich haben, fahren wir ins Kasino und wollen versuchen, die Glücksnummern zu erwischen. Die arme Mrs. Cole-Mortimer fühlt sich auch ein wenig vernachlässigt, wir sollten uns doch wirklich etwas mehr mit ihr beschäftigen.«
Der Tag und die Nacht verstrichen ohne irgendein unerwartetes Ereignis. Am Abend hatte Jean noch eine kurze Rücksprache mit ihrem französischen Chauffeur und verschwand dann in ihrem Zimmer.
Als Lydia an ihre Tür klopfte, um ihr ›gute Nacht‹ zu wünschen, erhielt sie keine Antwort.
Der Morgen graute, als der alte Jaggs verstohlen aus dem Gebüsch heraustrat, vorsichtig die Straße auf und ab blickte und dann langsam in der Richtung nach Monte Carlo davonschlurfte. Die einzigen Lebewesen, denen er begegnete, waren ein Esel, schwer mit Gemüse beladen, und ein barfüßiger Junge, der ihn führte.
Jaggs war ungefähr eine Meile gelaufen, als er scharf nach rechts einbog und dann einen engen und steilen Saumpfad hinaufkletterte, der zur Bergstraße nach La Turbie führte. Der Junge mit dem Esel ging die Hauptstraße nach der Grande Corniche weiter. Einige Häuser lagen an der Seite der Straße, oft direkt am Abhang, und
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