017 - Der Engel des Schreckens
gähnte.
»Ich gehe auf mein Zimmer und will noch ein wenig an meinem Roman arbeiten. Du paßt doch bestimmt gut auf Mr. Jaggs auf?«
»Woran willst du arbeiten?« wiederholte er.
»An dem Roman, den ich schreibe und der, wie ich annehme, Aufsehen erregen wird.«
»Was ist denn das nun wieder?« fragte Briggerland mißtrauisch. »Ein Roman? Ich wußte nicht, daß du dich mit solchem Unsinn beschäftigst.«
»Es gibt eine Unmenge sehr wichtiger Dinge, von denen du nichts weißt, mein lieber Vater«, sagte sie und ließ ihn verblüfft stehen.
Aber diesmal täuschte Jean ihn nicht. Ein Schreibtisch war in ihrem Zimmer aufgestellt worden, und ein dicker Stoß Schreibpapier wartete auf sie. Jean zog sich einen bequemen Kimono an, setzte sich mit einem leichten Seufzer an den Tisch und begann zu schreiben. Gegen halb drei suchte sie die beschriebenen Bogen zusammen und las sie noch einmal mit einem halb verächtlichen Lächeln durch. Sie war gerade im Begriff, zu Bett zu gehen, als ihr einfiel, daß ihr Vater noch auf seinem Beobachtungsposten war. Leise ging sie nach unten und klopfte an die Tür des Eßzimmers, die sich sofort öffnete. Das Zimmer lag im Dunkeln.
»Warum klopfst du denn?« flüsterte er grollend. »Du hast mir einen mächtigen Schreck eingejagt.«
»Ich zog es vor anzuklopfen, um nicht erschossen zu werden. Hast du etwas gesehen oder gehört?«
Die Glastüren des Speisesaals standen offen. Ihr Vater war im Mantel und hatte in seinem Arm ein Gewehr, wie sie bei dem Ungewissen Licht bemerkte, das von außen hereinfiel.
»Nichts«, sagte er. »Der alte Mann ist heute nicht gekommen.«
»Eigentlich habe ich mir das gedacht«, nickte sie.
»Aber wie kann ich denn auf ihn schießen, ohne daß es nachher Unannehmlichkeiten gibt?«
»Sei doch nicht so töricht«, versetzte Jean. »Weiß denn die Polizei nicht ganz genau, daß ein älterer Mann mein Leben bedroht hat, und würde es dann so merkwürdig sein, wenn du auf jemand schießt, den du um das Haus herumschleichen siehst?«
Sie nagte vorwurfsvoll an ihren Lippen.
»Ja, ich glaube, du kannst ruhig zu Bett gehen. Heute Nacht kommt er nicht. Dafür aber morgen.«
Sie ging in ihr Zimmer zurück und legte sich zu Bett.
Lydia hatte nicht mehr an Jeans Roman gedacht, bis sie sie am nächsten Vormittag an einem kleinen Tischchen auf dem Rasen eifrig schreiben sah. Es war erst Februar, aber Wind und Sonne waren warm, und Lydia glaubte, niemals ein so schönes Gemälde gesehen zu haben wie das junge Mädchen dort, das inmitten des blühenden Gartens saß.
»Störe ich Sie?«
»Ganz und gar nicht.« Jean legte die Feder nieder und rieb sich ihr Handgelenk. »Das kann mich wirklich ärgern, ich komme gerade zu einer so interessanten Stelle, und mein Handgelenk macht mir scheußliche Schmerzen.«
»Kann ich etwas für Sie tun?«
Jean schüttelte den Kopf.
»Ich sehe eigentlich nicht, wie Sie mir helfen könnten. Höchstens - aber nein, das kann ich nicht verlangen!«
»Worum handelt es sich denn?« fragte Lydia.
Jean zog nachdenklich die Brauen zusammen.
»Vielleicht könnten Sie es ja doch tun, aber ich möchte es eigentlich nicht von Ihnen verlangen. Sehen Sie, Liebste, ich muß ein Kapitel beenden, es soll heute noch nach London gehen. Es liegt mir viel daran, ein Urteil über meine Arbeit von einem Bekannten von mir - er ist Schriftsteller - zu erhalten, aber - nein, damit kann ich Sie doch nicht belästigen.« »Was ist es denn nun?« lächelte Lydia. »Ich bin sicher, daß Sie nichts Unmögliches von mir verlangen werden.«
»Ich hatte den Gedanken, daß Sie vielleicht nach meinem Diktat schreiben könnten. Es handelt sich ja nur noch um zwei oder drei Seiten«, sagte das junge Mädchen halb zuredend. »Gerade jetzt hat mich mein Roman so sehr gepackt, daß es direkt eine Schande wäre, wenn ich nicht weiterschreiben könnte.«
»Aber gern will ich das machen«, sagte Lydia. »Ich kann zwar nicht stenografieren, aber das macht doch wohl schließlich nichts ?«
»Nein, im Gegenteil, es ist mir sogar ganz angenehm, so schnell kann ich nun doch nicht denken.«
»Wovon handelt es denn?«
»Von einem jungen Mädchen«, erzählte Jean, »das eine große Geldsumme gestohlen hat -«
»Das scheint ja sehr spannend zu sein!« lächelte Lydia.
». . . und nach Amerika geflohen ist. Sie genießt ihr Leben, aber immer wieder bedrückt sie der Gedanke an ihr Vergehen. Und endlich entschließt sie sich zu verschwinden, aber die Menschen sollen
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