0176 - Der Pestvogel
mehr so dumm zu sein und für jedermann das Dienstmädchen zu spielen, doch sie schaffte es nicht, nein zu sagen, wenn jemand sie um einen Gefallen bat, selbst wenn diese Bitte noch so unverschämt war.
Es kann eben niemand über seinen Schatten springen.
Bei den Mocks hatte sie von sich aus ihre Hilfe angeboten, denn das waren nette Leute, zu denen sie einen vorbildlichen Kontakt hatte. Adele Mock tat ihr leid, und da ihr Mann nicht ständig zu Hause bleiben konnte, sah sie jede Stunde einmal nach der Kranken.
Das war keine Belastung für sie. Die Mocks hatten ihr zudem schon so viel Gutes getan, daß sie froh war, sich endlich einmal revanchieren zu können.
Marie Moric legte die Stickerei beiseite und warf einen Blick auf die alte Pendeluhr, deren leises monotones Ticken den Raum erfüllte. Die Frau war eine große, kräftige Person mit üppigen Formen, gepflegt und brünett. Sie strich sich eine gewellte Strähne aus dem Gesicht und erhob sich.
Es war Zeit, wieder einmal nach Adele Mock zu sehen.
Daß das Fieber gar nicht sinken wollte, gefiel Marie Moric absolut nicht, und sie konnte nicht verstehen, warum sich Adele Mock so sehr dagegen wehrte, ins Krankenhaus zu gehen. Manfred Mock hätte diesbezüglich ein Machtwort sprechen müssen, aber er war zu gut dazu. Er hatte sich noch nie über den Willen seiner Frau hinweggesetzt, hatte ihre Entscheidungen stets akzeptiert und respektiert. Aber diesmal hätte er eine Ausnahme machen müssen. Marie Moric beschloß, darüber mit ihm unter vier Augen zu sprechen. Sie wollte sich auch erbötig machen, mit Adele zu reden. Vielleicht würde ihre Überzeugungskraft ausreichen, um die Kranke umzustimmen.
Sie verließ das Wohnzimmer und suchte im Vorzimmer die Schlüssel zur Nachbarwohnung. Auf dem Schuhkästchen neben der Tür lagen sie nicht, obwohl Marie Moric hätte schwören können, sie dorthin gelegt zu haben.
Nachdenklich legte sie die Hand auf ihre Augen, Ach ja, in der Küche mußten die Schlüssel liegen. Neben dem Kühlschrank. Marie Moric sah nach, und da lagen die Schlüssel tatsächlich. Sie griff sich den klobigen Bund und verließ damit ihre Wohnung.
Gleich die nächste Tür führte in die Wohnung des Ehepaares Mock. Von allen Schlüsseln, die am vernickelten Ring hingen, genügte ein einziger, um die Tür aufzuschließen. Marie Moric wußte auf Anhieb, welcher es war. Sie schob ihn ins Schloß und drehte ihn nach rechts. Ein kurzes metallisches Schnappen, und dann schwang die Tür zur Seite.
Marie Moric betrat die Nachbarwohnung leise.
Falls Adele Mock schlief, wollte sie sie nicht wecken.
Vorsichtig näherte sie sich der Schlafzimmertür.
Da erschreckte sie ein Geräusch.
Die Kranke stöhnte!
»Um Himmelswillen!« entfuhr es der hilfsbereiten Frau. Sie eilte auf die Schlafzimmertür zu und öffnete sie schwungvoll. In derselben Sekunde traf sie der Schock mit der Wucht eines Keulenschlages, denn auf der Brust der Kranken hockte ein riesiger schwarzer Vogel.
***
Marie Moric prallte zurück. Ihre Augen weiteten sich vor Furcht und Entsetzen. Schlagartig wich die Farbe aus ihrem Gesicht, und sie stieß einen grellen Schrei aus.
Wie von der Natter gebissen wirbelte sie herum. Als sie den Schrei ausgestoßen hatte, war der Kopf des Totenvogels jäh herumgeruckt. Haßerfüllt hatten seine Augen die Frau angestarrt, und nun ließ er von Adele Mock ab, um sich auf die Nachbarin zu stürzen.
Er schoß hoch und peitschte die Luft mit seinen Flügeln. Er war wütend, denn er war soeben im Begriff gewesen, Adeles Brust aufzuhacken. Marie Moric hatte ihn dabei gestört. Das sollte sie nun büßen.
Marie Moric rannte durch die Diele. Sie war von einer panischen Furcht befallen. Pfeilschnell sauste der Totenvogel hinter ihr her.
Sie hielt die Arme schützend über ihren Kopf. Atemlos lief sie um ihr Leben. Sie erhielt einen brutalen Stoß, stolperte und fiel.
Der Killervogel ließ sich auf sie fallen. Er wollte seine scharfen Krallen in ihr Fleisch jagen, doch Marie Moric drehte sich gehetzt zur Seite, sprang auf und setzte die überstürzte Flucht fort.
Der Totenvogel stieß sich vom Boden ab. Marie Moric erreichte die Wohnungstür. Sie riß sie auf, doch der gefiederte Mörder rammte sie mit seinem Körper wieder zu.
Er hackte mit seinen Greifern nach der verstörten Frau. Marie Moric gelang es erneut, die Tür aufzureißen. Aber nur einen schmalen Spalt weit. Sie versuchte sich hindurchzuzwängen. Sie schob und drückte. Es war ein erbittertes
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