0183 - Der Mann, der das Grauen erbte
stand und sein schmerzendes Fußgelenk massierte. Seine Hände brannten wie Feuer. Das dünne, zähe Seil hatte wie ein Messer in seine Haut geschnitten. Aber er hatte im Moment keine Zeit, daran zu denken.
Er legte das Nekronomikon vor sich auf den Boden, kniete nieder und knöpfte mit zitternden Fingern sein Hemd auf.
»Was hast du vor?« fragte Bill. »Wir müssen hier weg. Diese Bestien können jeden Augenblick auftauchen!«
Zamorra schüttelte unwillig den Kopf und löste das Amulett von der Kette an seinem Hals. Er zögerte eine endlose Sekunde lang, ehe er es mit einem entschlossenen Ruck auf das Buch legte.
Er spürte, wie das Amulett zum Leben erwachte. Und er spürte auch die andere, negative Kraft, die in dem unscheinbaren Buch gespeichert war, der Hauch der bösen, schwarzen Magie, die bei der Erschaffung dieses Bandes Pate gestanden hatte. Zwei, drei Sekunden lang geschah gar nichts, aber Zamorra wußte, welche ungeheuren Gewalten jetzt aufeinander trafen. Der Geruch von verbranntem Leder und Papier mischte sich mit dem Gestank glühenden Silbers.
Das Amulett begann erst rot, dann gelb und schließlich weiß zu glühen. Gleichzeitig schienen die Umrisse des Buches vor seinen Augen zu verschwimmen.
Seltsamerweise spürte er keine Hitze, obwohl seine Hand noch immer auf der rauhen Rückseite des Amuletts lag. Aber das, was er hier beobachtete, war kein normales Feuer. Es war nur der sichtbare Teil einer Auseinandersetzung, die viel zu gewaltig war, als daß der menschliche Geist sie wirklich hätte erfassen können. Es war ein Kampf zwischen den Urkräften des Universums, zwischen Gut und Böse an sich.
Zamorra stöhnte. Schweiß stand auf seiner Stirn. Er spürte, wie das Amulett nach seiner Kraft griff, ihm Lebensenergie entnahm, um sie im Kampf gegen das absolut Böse einzusetzen.
»Helft… mir«, stöhnte er schwach.
Bill kniete neben ihm. Zamorra streckte kraftlos die Hand nach dem Arm des Freundes aus, während Bill seinerseits nach Nicoles Hand griff. Gemeinsam boten sie all ihre geistigen Kräfte auf, um das Amulett in seinem Duell zu unterstützen.
Zamorra wußte nicht, wie lange es dauerte. Hinterher hatte er das Gefühl, stundenlang reglos zwischen den Trümmern des Hauses gekniet zu haben, aber er wußte, daß nur wenige Augenblicke vergangen sein konnten. Plötzlich gab es einen hellen, peitschenden Ton, als würde irgendwo eine überdimensionale Gitarrensaite zerrissen.
Das Nekronomikon flammte plötzlich in greller Glut auf und zerfiel innerhalb weniger Augenblicke zu feiner, grauer Asche.
Ein dumpfer Schlag ließ den Erdboden zittern. Zamorra spürte, wie sich die Erde unter ihm aufbäumte, aus der Tunnelöffnung hinter ihnen schoß eine grelle, heiße Stichflamme, gefolgt von einem überirdischen Grollen und Tosen.
Und dann…
Schweigen.
***
Zamorra parkte den Bentley direkt vor dem Verlagsgebäude.
»Wir sind da.«
Martens nickte. »Ja. Leider.«
»Leider?« Nicole zog die Stirn kraus und sah den jungen Mann amüsiert an. »Ich hatte gedacht, daß Sie froh wären, wieder hier zu sein.«
Martens grinste säuerlich. »Ich bin mir noch nicht ganz sicher, ob ich mich nun freuen soll«, sagte er. »Vor allem nicht, wenn ich daran denke, daß Mr. Leroy mir wahrscheinlich noch ein zweites Loch in die Schulter fragen wird.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf seinen linken Arm, der dick einbandagiert in einer Schlinge hing. »Ich weiß immer noch nicht, wie ich es ihm erklären soll.«
»Wie wäre es mit der Wahrheit?« schlug Zamorra vor.
Martens verzog das Gesicht. »Nicht so gut. Oder würden Sie die Geschichte glauben, wenn Sie sie nicht zufällig selbst erlebt hätten?«
Zamorra lächelte. »Kaum. Aber ich habe schon eine Menge erlebt, über das ich mit niemandem reden kann.«
»Sagen Sie, Zamorra«, sagte Steven nach einer Weile, »was sind Sie eigentlich?«
»Parapsychologe.«
Martens nickte ärgerlich. »Das weiß ich. Ich meine, was sind Sie wirklich? Eine Art Gespensterjäger oder so was?«
Bill lachte. »Kaum«, antwortete er an Zamorras Stelle. »Aber langweilig wird es bei uns selten, wenn Sie das wissen wollen.«
64
ENDE
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