019 - Bei Vollmond wird gepfählt
diesen Phillip sehr hassen, daß er sich solche Mühe mit ihm macht.«
»Es gibt noch andere von Keystones Art«, sagte der alte Mann finster. »Phillip ist eine Gefahr für sie, und sie wollen ihn vernichten. Zugleich aber haben sie auch Furcht vor ihm, er ist tabu für sie, weil sein Geist verwirrt ist, und deshalb müssen wir es tun.«
»Ich kann es nicht.« Die alte Liza war den Tränen nahe. »Stell dir vor, Jimmy, er hat uns aufgesucht, uns beide! Wie ein Freund kam er zu uns. Er zürnt uns nicht und verurteilt uns nicht. Er bedauert uns. Und wir sollen ihn töten, sollen ihm einen Vampirpfahl ins Herz treiben.«
»Was bleibt uns anderes übrig? Wir sind beide sehr alt und haben nicht mehr lange zu leben. Unser Leben war Angst und Schrecken. Soll auch der Tod uns keine Ruhe und keinen Frieden bringen? Wenn Phillip stirbt, können auch wir in Frieden sterben.«
»Aber es ist so furchtbar! Ausgerechnet dieses schöne Wesen! Phillips Seele ist so rein und weiß wie frischgefallener Schnee.«
»Die nächsten Vollmondnächte kommen sicher, Liza. Wir müssen uns entscheiden. Wieder werden wir alles im Traum miterleben, in einem so realistischen Traum, daß er vom wahren Leben nicht zu unterscheiden ist. Bei uns liegt die Entscheidung, ob wir eingreifen und Phillip pfählen oder ob wir einem fluchwürdigen Dasein als Untote entgegengehen wollen.«
Minutenlang wurde kein Wort gesprochen. Nur die große Standuhr in der Ecke tickte monoton. Draußen tobte und heulte der Wind. Er rüttelte an den Fensterläden und schüttelte die Äste der Bäume und Büsche.
»Phillip muß sterben«, flüsterte die alte Liza. In ihren klaren blauen Augen standen Tränen. »So schwer es uns fällt, wir müssen ihn töten.«
»Beim nächsten Vollmond vollenden wir es.«
»Hast du den Privatdetektiv eingegraben?« fragte die Greisin.
»Ja. Bei jenem Mädchen, dessen Leichnam er entdeckt hatte. In der Grube.«
»Hast du ihn gepfählt?«
»Nein, Keystone hat es mir verboten.«
»O Gott!« sagte die alte Frau erschrocken. »Er muß etwas mit ihm vorhaben. Wenn du ihn nicht gepfählt hast, heißt das …«
»… daß er auch zum Vampir wird«, vollendete der alte Jimmy den Satz. »Verdammnis über dieses Haus, das Schrecken brütet und Monster hervorbringt.«
Dorian brachte Claudia zu dem Leiter einer renommierten Künstleragentur, den er gut kannte. Zuerst hatte Paul Hyman, der Agent, nicht mit Claudia Bell reden wollen, doch Dorian hatte ihn so lange bekniet, bis er endlich doch einwilligte.
Hymans Agentur befand sich in Marylebone. Er war recht angetan von Claudia, die er aus ihrer Glanzzeit her noch kannte, und plauderte angeregt mit ihr, doch er machte ihr wenig Hoffnung.
»Wer in dieser Branche einmal auf den Bauch gefallen ist, kommt kaum jemals wieder hoch«, sagte der elegant gekleidete Agent mit den graumelierten Schläfen. »Schönheitstänzerinnen gibt es wie Sand am Meer, und jeden Tag kreuzen hübsche junge Mädchen mit großen Rosinen im Kopf auf, die sich einbilden, sie könnten mit Strippen und Tanzen Geld scheffeln und Karriere machen.«
Hyman stimmte aber immerhin zu, das Strip-Lokal in der Bateman-Street aufzusuchen, in dem Claudia derzeit auftrat, und sich ihre Nummern anzusehen. Claudia war davon nicht hundertprozentig begeistert.
»Der Schuppen und die Darbietungen dort haben kein Niveau. In Soho geht es recht deftig und ordinär zu. Ich möchte nicht, daß Sie einen falschen Eindruck bekommen, Mr. Hyman«, sagte sie.
»Ich bin schon fast dreißig Jahre in der Branche und weiß, worauf ich zu achten habe. Dorian mag von Ihren Darbietungen hingerissen sein, aber in mir haben Sie einen strengeren Kritiker.«
Dorian, Paul Hyman und Claudia speisten in einem Feinschmeckerlokal in Chelsea, das für seine delikaten Hummerspezialitäten und Fondues unter Kennern als Geheimtip galt; danach war es Zeit, nach Soho zu fahren.
Mit der Inquisitionsabteilung stand Dorian in loser Verbindung. Der Observator Inquisitor und die anderen Executor Inquisitoren wußten, daß er mit einem Fall beschäftigt war, und sie ließen ihm freie Hand.
Bereits nach der Mitternachtsshow saßen Dorian, Hyman und Claudia in einem Separee zusammen. Dem Agenten hatten Claudias Auftritte sehr gefallen.
»Sie sind noch besser als in Ihrer besten Zeit«, sagte er. »Ihre Darbietungen haben etwas – nun, wie soll ich es nennen – etwas Ästhetisches. Sie können tun, was Sie wollen, Sie wirken nie obszön. Wenn ich ehrlich sein soll,
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