0197 - Mörder im Chinesenviertel
zum Genuß von Alkohol oder Kaffee zu verführen.«
»Haben Sie einen großen Bekanntenkreis?«
»Ja, ziemlich.«
»Wissen Sie, ob auf Ihren Vater eine Lebensversicherung abgeschlossen war?«
»Ja. Mein Vater hielt es für notwendig, weil wir sonst kein Vermögen besitzen. Er sagte, wenn — wenn ihm einmal etwas zustoßen sollte, möchte er nicht, daß ich vollkommen mittellos dastünde. Deshalb hat er sein Leben versichern lassen.«
»Auf welche Summe?«
»Auf zehntausend Dollar, Sir.«
»Und das Geld bekommen Sie?«
»So steht es in der Versicherungs-Police.«
Ich steckte mir eine Zigarette an und warf Phil einen kurzen Blick zu. Mit allem, was das Mädchen bisher gesagt hatte, hatte sie sich praktisch selbst belastet. Sie wußte, daß ein plötzlicher Schreck ihren Vater töten konnte. Und sie hatte einen ganz klaren Vorteil von Tode ihres Vaters: nämlich zehntausend Dollar aus der Lebensversicherung. Es sind schon Leute wegen viel, viel weniger Geld umgebracht worden.
»Miß Li-Tschou«, sagte Phil in seiner sanften Art, »das Antlitz Ihres verstorbenen Vaters zeigt deutlich, daß er sehr stark erschrocken sein muß. Dieser Schreck dürfte den Herzschlag verursacht haben. Es scheint, als ob Ihr Vater wenige Sekunden vor seinem Tode eine irgendwie furchtbar aufregende Situation erlebt hätte. Können Sie sich denken, was das gewesen sein könnte?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. Ihre dunklen Augen blickten uns verwirrt an. Entweder war sie unschuldig wie ein neugeborenes Baby, oder aber sie besaß ein Talent zur Schauspielerin, das ungewöhnlich sein mußte.
»Gibt es außer Ihnen noch andere Menschen, die einen Vorteil vom Ableben Ihres Vaters haben?« fuhr Phil fort.
Das Mädchen schien nachzudenken. Erst nach einigen Minuten zuckte sie wieder hilflos die Achseln und meinte: »Ich wüßte wirklich nicht…«
Plötzlich hob sie ruckartig den Kopf. Man sah ihr an, daß ihr schlagartig die Bedeutung unserer Fragen aufgegangen war. Sie preßte die Hand vor den Mund, atmete schwer und konnte sich nur mühsam wieder beruhigen. Schließlich aber fragte sie mit einer Stimme, der die Erregung anzuhören war:
»Wollen Sie mit all diesen Fragen andeuten, daß mein Vater — ich meine — daß jemand —«
Sie brach ab. Phil vollendete ihren Satz.
»Miß Li-Tschou, bitte, hören Sie genau zu! Ihr Vater ist an einem Herzschlag gestorben. Sein Gesicht verrät Angst, Furcht oder einen großen Schrecken. Wir wissen, daß er wegen seiner Herzkrankheit jede Aufregung vermeiden mußte. Es ist die Pflicht der Polizei, jeden Todesfall eingehend zu untersuchen, bei dem auch nur der leiseste Verdacht aufkommt, daß nicht alles ganz und gar mit rechten Dingen zugegangen sein könnte! Wir behaupten nicht, daß jemand Ihren Vater absichtlich erschrecken ließ. Es besteht aber diese Möglichkeit, und das müssen wir untersuchen. Haben Sie uns richtig verstanden?« Zum ersten Male verlor sie etwas von ihrer steinernen Reglosigkeit. Sie rutschte auf dem Stuhl ein wenig nach vorn, neigte den Oberkörper vor und fragte sehr ernst:
»Sie gehen also lediglich einer theoretischen Möglichkeit nach?«
»Genau so ist es«, nickte Phil. »Es kann durchaus der Fall sein, daß Ihr Vater von etwas Harmlosem erschrocken wurde. Vielleicht ein plötzlich zu tief über die Dächer hinwegrasender Düsenjäger, vielleicht ein Auto, das ihn beim Überqueren der Straße fast streifte oder irgend so etwas. Aber ein Umstand gibt uns am meisten zu denken, Miß Li-Tschou, und wir wollen Ihnen darin reinen Wein einschenken.«
Phil machte einen Zug an der Zigarette, die er sich angezündet hatte. Das Mädchen wandte den Blick nicht von ihm, als er fortfuhr:
»Ihr Vater wurde in einem kleinen Hof gefunden, der hinter einigen kleinen Häusern liegt, die ihrerseits schon auf einem Hinterhof stehen. An der Fundstelle sieht es sehr unordentlich aus. Müll, Abfall und Schmutz liegen umher. Wenn Ihr Vater selbst an diesen Ort gegangen wäre, müßten an seinen Schuhen Spuren dieses Schmutzes vorhanden sein, statt dessen sind die Schuhe ziemlich sauber, und eine Schleifspur zeigt an, daß Ihr Vater an die Fundstelle geschleppt wurde, als er schon tot war. Das ist doch eigenartig? Oder finden Sie nicht?«
»Doch, doch«, sagte sie verständnislos, »das ist wirklich seltsam…«
»Wenn Ihr Vater irgendwo auf der Straße oder in einem Lokal plötzlich tot zusammengebrochen wäre, warum sollte man seinen Leichnam erst an einen anderen Ort bringen?
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