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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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ich hier essen und die Zeit zurückdrehen wollte. Mein Arthur hat immer gesagt, ich will mit dem Kopf durch die Wand. Früher galt das als mutig. Heute schlägt man sich den Schädel ein. Kommen Sie, mein Kind.«
    Victoria faltete die Serviette glatt, wie die Mutter es befohlen hatte, ehe sie vom Tisch aufstehen durfte. In wohlgesetzten Worten, wie sie die Untersekundanerinnen in der Tanzstunde einübten, bedankte sie sich für die Einladung. Weil es zum Ritus gehörte, versuchte Victoria zu lächeln. Zu spät merkte sie, dass ihre Lippen aufeinanderklebten und ihr die Gepflogenheiten der ermordeten Tage verweigerten. »Bis morgen«, sagte sie.
    Der nächste Morgen war ein Tag, wie ihn Theodor Storm in seinen Herbstgedichten besingt, vergoldet mit den Farben vom Oktober, mit leichten Nebelschwaden, die zur Sonne stiegen, und mit Blättern, die sanft auf die Erde fielen. Die Kurkapelle spielte wieder im Freien, und abermals vergaßen die Musiker, dass die Juden Offenbach und Paul Abraham in Ungnade gefallen waren und dass nur noch die Werke politisch genehmer Komponisten gespielt werden durften. Victoria summte die Melodien mit und dachte an die Abende im Frankfurter Schumanntheater.
    Bunte Papierdrachen mit flatternden Schwänzen flogen in Richtung Wolkenland. Die Buben trugen Kniestrümpfe und stopften ihre Mützen in die Hosentaschen. Grauhaarige Ehepaare, die sich im Jugendmai ewige Treue geschworen hatten, spazierten noch immer Hand in Hand. Im Wasser, das an den Häusern, Pensionen und Hotels vorbeifloss, glänzten die Steine wie Jade, und die dümpelnden Enten streckten ihre Hälse, als wären sie Schwäne. Doch Frau Bär mit dem Buch im roten Samteinband und den Bonbons in der Manteltasche kam nicht zu der weiß lackierten Bank unter dem Ginkgobaum. Weder morgens noch am Nachmittag.
    Fanny jagte ihren Ball auf dem Rasen, den Kinder nicht betreten durften. Der Parkwächter sagte, sie wäre ein ungezogenes kleines Mädchen, dem er beim nächsten Mal den Ball wegnehmen würde. Sie stemmte ihre Arme in die Hüften und schrie »Nein!«, denn noch hatte ihr keiner klargemacht, dass es gefährlich war, wenn jüdische Kinder Männern in Uniform widersprachen. Salo setzte sich zum ersten Mal in seinem Kinderwagen auf, er fand die Welt zum Lachen und gurgelte Frohsinn. Victoria stierte ins Leere. Ihr Herz schlug schnell, ihre Augen neckten sie mit Bildern, die dem zweiten Blick nicht standhielten. Sie befahl ihrem Gedächtnis, jedes Wort zu wiederholen, das sie und Lilly Bär am Abend zuvor gesprochen hatten, doch kein Licht erhellte das Dunkel.
    Am dritten Tag ertrug sie die Unruhe ihrer Seele nicht mehr. Sie ging mit den Kindern zum Badhotel Hirsch.
    Der Portier, gut geschult und bei seinen Chefs für seine Fähigkeit geschätzt, eine Situation auf den ersten Blick zu erfassen, schaute erst Fanny und dann den Kinderwagen an. Er räusperte sich und registrierte, dass Victoria ihre Schultern breitmachte wie jemand, der sich in einer Situation, die ihm unbehaglich ist, Mut zu machen sucht. In Sekundenschnelle begriff der meisterliche Menschenkenner, dass die junge Frau an seinem Tresen zu denen gehörte, für die er nicht zu lächeln brauchte. »Also?«, fragte er probehalber.
    »Ich wollte mich nach Frau Bär erkundigen. Lilly Bär. Sie wohnt hier.«
    »Nicht mehr.«
    »Aber ich weiß es genau. Wir haben am Dienstag zusammen hier gegessen. Vielleicht ist sie krank.«
    »Gesund wie ein Fisch im Wasser ist sie«, lachte der Mitleidlose, »aber leider ein bisschen tot. Umgebracht hat sie sich, Ihre feine Frau Freundin. Und wir hatten die Scherereien. Und falls Sie eine Glaubensgenossin von ihr sind, empfehle ich Ihnen zu verschwinden. Und zwar ein bisschen plötzlich.«
    Es war das erste Mal, dass Victoria ein Telegramm aufgab. Ihre Wirtin musste ihr erst erklären, dass sie dafür zur Post musste. Der Postangestellte runzelte die Stirn, als er den Text las, der die Rückkehr nach Frankfurt ankündigte. Er war ein Mann, der seine Häuslichkeit schätzte, abends Kümmeltee trank, Patiencen legte und jeden Sonntag in die Kirche ging. Hassen hat er noch nicht gelernt. Der Gemütliche empfahl ihr, sich der Kosten wegen auf zehn Worte zu beschränken. Victoria bedankte sich und strich den Zusatz: »Wir freuen uns auf Papa.«

9
DAS TEMPO DES UNHEILS
    März bis Oktober 1935
    »Es kann nur noch aufwärtsgehen«, weissagte Erwin mit verstellter Stimme. Er stand auf, gab dem Schaukelstuhl einen leichten Stoß, stellte sich in den

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