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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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ihre zweite Heimat. Victoria erkannte den Kübel. Ihr Herz taumelte in die Seligkeit. Nur anschauen, nicht anfassen, du kleiner Satansbraten, sonst holt dich die Hexe, und du musst jeden Tag Rapunzelsalat mit Speck essen. Das war die Stimme von Erwin, den die kecke Vicky lange Zeit für einen nichtsnutzigen, schadenfrohen Bruder gehalten hatte, doch tatsächlich war er ein gütiger, besorgter Schwesternbeschützer.
    Frau Feuereisen, erst fünfundzwanzig Jahre alt und schon von einer hoffnungslosen Zukunft bedroht, die machtberauschte Menschenverächter für die Juden entworfen hatten, genoss die volle Palette, die das Leben den Glücklichen und Unbekümmerten bietet. Sie hatte ein tief dekolletiertes cognacfarbenes Kleid an, das sie ursprünglich gar nicht hatte mitnehmen wollen, und um den hell gepuderten Hals das zweireihige Korallencollier mit den kleinen Diamantbaguettes, die ihr Jettchen an dem Tag geschenkt hatte, als in Sarajevo der österreichische Thronfolger und seine Gattin erschossen wurden. »Ich kann mich noch gut erinnern«, murmelte die Abgetauchte in ihr Taschentuch. Es duftete nach Jasmin und Rosen und erzählte Geschichten, die mit einem Paukenschlag traurig machten und den Kopf vernebelten.
    Es verwirrte Victoria, sich laut sprechen zu hören; sie war erleichtert, dass Frau Bär nicht reagierte und weiter zerstreut das Bildnis einer fürstlichen Dame mit Puderperücke und Hündchen anlächelte. Mit einer Eloquenz, der die in den Träumerjahren entwickelte schauspielerische Begabung zugutekam, lobte Frau Feuereisen den gefüllten Kalbsrücken; mit großen Kinderaugen bestaunte sie die in Riesling pochierten Pfirsiche. Die Butterspätzle, goldglänzend und fett, bezeichnete sie als »superb« und leckte dabei ihre Lippen. Sie freute sich so mimisch wirkungsvoll an ihnen, als hätte sie sich ihr Leben lang nach Schwabens Küchenschätzen gesehnt. Nach langen Lehrjahren hatte Victoria, die Aufmüpfige, die sich so mühsam davon abhalten ließ, jedermann ihre Meinung mitzuteilen, endlich gelernt, was sich für Damen aus gutem Hause ziemte. Niemand musste sie, wie damals Tante Jettchen, mit fünf Groschen bestechen, damit sie die »Ekelwürmer« nicht unter dem Teppich verscharrte.
    Die Geister ihrer Kindheit tanzten furioser in ihrem Kopf als die Hexen in der Walpurgisnacht auf dem Brocken. Als der Pianist zu spielen begann und ihre Augen sich ebenso täuschen ließen wie die Ohren, stellte Victoria gar fest, Lilly Bär mit ihrer Liebenswürdigkeit, ihrem Charme und den schönen Bilderbuchlocken würde ihrer nie vergessenen Großtante ähneln. Zur Vorspeise erzählte sie ihrer Gastgeberin von Jettchens Papagei, dem unverwüstlichen Otto mit dem Elefantengedächtnis, beim Hauptgang von den Ferientagen in Baden-Baden und den wundersamen Ausflügen mit Schutzengeln, die Tante und Nichte für alle Ewigkeit aneinanderschmiedeten. Victoria, noch stärker von den mit Goldfäden durchwebten Erinnerungen trunken als vom Wein, war nicht mehr zu halten. Bei den mit Grand Marnier flambierten Kirschen vertraute Frau Feuereisen der aufmerksam lauschenden Frau Bär an, dass sie eine Kindheit lang die großherzige, unkonsequente Tante mehr geliebt hätte als die Mutter mit den gestrengen Prinzipien. »Wir waren immer zu viert und immer im siebten Himmel. Die Tante, ich und unsere beiden Schutzengel. Pit und Pat hießen sie. Sie spielten mit Sternschnuppen Federball und konnten aus Tränen Perlen machen.«
    Die, die ohne Arg und ohne Vorsatz in die Kindheit gereist war, hatte Tränen in den Augen. Zum ersten Mal seit der bedrückenden Abreise aus Frankfurt war sie froh, dass ihr Mann nicht mit am Tisch saß. Schon auf der Hochzeitsreise in Brixen hatte Fritz, der eiserne Preußengatte, irritiert moniert, seine ihm soeben angetraute Frau wäre zu sentimental und hätte zu nahe am Wasser gebaut. Ehe die damals Gescholtene nun dazu kam, sich geziemend beschämt mit der mangelnden Contenance einer Ehefrau auf Reisen zu beschäftigen, machte auch Victorias großzügige Gönnerin ein sehr freimütiges Geständnis. Sie hätte, bekannte Frau Bär, sich mit »Kalkül und der Schamlosigkeit alter einsamer Weiber« an Victoria »herangemacht«. Um nicht allein zu sein.
    »Allein mit meinem Schmerz«, fügte sie nach unbehaglicher Schweigepause hinzu. Ihr Mann, der bekannte Kunsthändler, den die ganze Branche als einen der Großen und Redlichen verehrte, der Mäzen mit der stets offenen Hand, war nicht eines Todes gestorben,

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