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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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das von ihr angebotene Essen berüchtigt. Die Zimmer, das wusste jeder, der sich in Baden-Baden auskannte, waren klein, die wenigsten hatten fließendes Wasser. Weder Victorias elegante Garderobe noch Fannys teure Kleider und Salos weiß lackierter Korbwagen mit den hohen Rädern passten zur Logis.
    »Jüdisch?«, fragte Frau Bär.
    »Wie kommen Sie denn darauf?«, fragte Victoria erschrocken.
    »Ach, Kindchen, in dem Haus haben seit jeher Menschen gewohnt, die bessere Tage gesehen haben. Ich nehme an, auch die anderen Gäste essen keine Schinkensemmeln. Ich kenne mich ganz gut mit den Verhältnissen hier aus. Seit zwanzig Jahren habe ich den Herbst in Baden-Baden verbracht. Allerdings ist es das erste Mal ohne meinen Mann.«
    An diesem Abend speiste Victoria im Badhotel Zum Hirsch – wie in den Sonnenzeiten, von denen ihre Mutter mit einem Strahlen erzählte, das ihrem Naturell schon lange nicht mehr entsprach. Ihre Gastgeberin war eine gute Fee mit Silberlocken, die sich auf einer Bank im Kurpark zu Baden-Baden an Kindern freute, die von nichts wussten und die noch lange nicht erfahren würden, zu welcher Grausamkeit Menschen fähig sind. Lilly Bär hatte dafür gesorgt, dass ein vertrauenswürdiges Zimmermädchen vom Hirschen, wo sie ja seit Jahren Stammgast und trotz der Parolen der neuen Zeit noch willkommen war, einen Abend lang Fanny und Salo hütete. Ein paar barmherzige Stunden lang war Victoria wieder die, die sie gewesen war, ehe die Nazis in das Leben der Familie Sternberg stürmten – unbeschwert und lebensfroh und von ihren nichtjüdischen Freundinnen, die nun die Straßenseite wechselten und den Kopf abwandten, wenn sie sie sahen, als eine der ihren akzeptiert.
    »Ich komme mir vor wie im Schlaraffenland«, sagte Victoria. »Ach, wenn doch die Zeit stehen bleiben würde. Nur einen Augenblick.«
    Sie war wieder Kind und spielte Hickelkreis auf der Straße, hüpfte in ihr Wolkenkuckucksheim und sang Soldatenlieder. Am Ernst des Lebens litten nur die anderen. In ihrem Schulranzen war ein Griffelkasten aus hell poliertem Holz; auf dem Schiebedeckel saß Kaiser Wilhelm II. Er war ein schöner junger Mann, der auf einem Schimmel zur Sonne ritt. Und zum Sieg. Sitz gerade, Victoria, befahl die Mutter, sonst gibt es keinen Pudding. Breite deine Flügel aus, flüsterte Tante Jettchen, sonst bleibst du ewig unten.
    Schon bei den mit Meerrettichschaum gefüllten Lachstüten zogen sich die grüngesichtigen Gespenster zurück, die sonst Tag und Nacht Victoria einhämmerten, dass ihr Mann keine Existenz mehr hatte und dass es die Wohnung in der Günthersburgallee mit den Erkern und kleinen Türmen, den Sammeltassen und Seidenportieren nicht mehr gab. Mit jedem Schluck badischer Rosé, den sie trank, nippte Victoria am großen Vergessen. Stück für Stück verdrängte die vom Albtraum Genesene, dass die drei Geschäfte ihres Vaters seit dem Boykott immer schlechter liefen und er jeden Tag Brom schluckte für seine Nerven, dass ihr Bruder ohne Einkommen war und Clara jedes Mal zusammenzuckte, wenn einer an der Wohnungstür schellte. Die Schwester, für die das Wort Angst nie einen persönlichen Bezug gehabt hatte, fürchtete nun, Theo Berghammer könnte Einlass begehren und alte Privilegien einfordern. In seinem ersten Leben hatte Claudettes stürmischer Vater Heine rezitiert und um Mitternacht viel von der Liebe gesprochen, im zweiten war er ein strammer Nazi im Ledermantel und mit bellender Stimme.
    Victoria, die als Sechsjährige bei jeder Mahlzeit gemault hatte, das Essen schmecke ihr nicht, der Stuhl wäre zu hart und sie wolle nach Hause zu Josepha und ihrem Pflaumenpfannkuchen mit Vanillesoße, schaute zum kristallenen Leuchter. Sie kniff beide Augen zu, machte sie sofort wieder auf und berauschte sich am Regenbogenlicht. Vickylein schnalzte mit der Zunge, was kleinen Mädchen, die feine Damen werden wollten, streng verboten war. Pfui, sagte Otto und schnalzte auch.
    Frau Feuereisen, die einen vielversprechenden Rechtsanwalt und Notar geheiratet hatte, der nun wieder in seinem alten Kinderzimmer wohnte, aber immer noch auf den Sieg der Gerechtigkeit hoffte und derweil Stellenangebote durchforstete, fixierte die Dahlien mit den roten Sommerköpfen und die Chrysanthemen mit den winterschweren goldenen. Der üppige Herbststrauß stand in einem silbernen Kübel. Er hatte gedrechselte Henkel, auf der Vorderseite leuchtete das Bildnis der Kaisergattin Augusta, die die Preußen hatte wissen lassen, Baden-Baden sei

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