02 Die Kinder der Rothschildallee
»den die Menschen natürlich zu nennen belieben. Umgebracht haben sie ihn, diese Verbrecher.«
In ihrer Erregung betonte Lilly Bär ausgerechnet das letzte Wort in dem fatalen Satz. Der Kellner hatte erst eine der beiden Mokkatassen gefüllt, er zuckte zusammen wie ein Mann, der die Hand der Inquisition auf der Schulter spürt. Mit dem kleinen Silbertablett, auf dem noch die Schale mit Würfelzucker stand, schlug er an die Tischkante. Er sah sich verlegen um, murmelte: »Pardon«, und hetzte, feuerrot im Gesicht, in Richtung Küche. Lilly Bär senkte ihren Kopf. Sie sprach nun leiser, doch immer noch so deutlich, dass Victoria den Kinderimpuls unterdrücken musste, ihre Ohren mit den Händen zuzuhalten und zu schreien. Die braunen Schergen hatten Arthur Bär, einen baumstarken Mann bei bester Gesundheit, am Tag nach dem Reichstagsbrand abgeholt – morgens um fünf, ohne einen Haftbefehl zu haben und ohne einen Haftgrund zu nennen. Ihr Mann sei noch im Schlafanzug gewesen. Ausgerechnet in dem dunkelblauen mit der geflickten Hose.
»Sie nannten es Schutzhaft«, berichtete die, von der Victoria nichts wusste, außer dass sie Berlinerin und jüdisch war und dass sie Kinder liebte und sich nach ihren Enkeln sehnte. »Das Wort hatte ich noch nie gehört. Ich hielt das Ganze für ein großes Missverständnis und lief zur Polizei, als wäre die Welt, in der solches geschah, noch die alte. Keiner sagte mir, wohin man meinen Mann gebracht hatte. Sie zuckten mit den Schultern, und wenn sie wohlmeinend waren, starrten sie an mir vorbei und rauchten ihre Zigaretten. Ein junger Kerl brüllte: ›Frag doch bei Jehova nach. Vielleicht ist der zuständig für abhandengekommene Juden.‹ Nach einer Woche teilte man mir Arthurs Tod mit. Er sei im Gefängnis an Lungenentzündung gestorben und am gleichen Tag eingeäschert worden. Aus volkshygienischen Gründen. Die Rechnung für die Kosten war beigefügt. Ich wagte nicht, meinem Sohn in der Schweiz zu schreiben. Meine Tochter und der Schwiegersohn haben mich gedrängt, sofort aus Berlin zu verschwinden, und ich habe mich gefügt. Inzwischen habe ich von meinem Hausmädchen erfahren, dass sie alle Bilder aus dem Haus und die meisten aus der Galerie geholt haben. Auch das eine von Franz Marc, zwei von Kandinsky und sämtliche Grafiken.«
»Ich verstehe das alles nicht«, stammelte Victoria, »wie kann so etwas passieren? Ich dachte, sie beschmieren nur Schaufensterscheiben.«
»Das kann man auch nicht verstehen. Und ich glaube, es ist seitdem oft passiert. Arthur hat immer gesagt: ›Wer sich so liebt wie wir, stirbt zusammen. Wie Philemon und Baucis.‹ Das war sein Traum. Für den hat er gebetet. ›Gott lässt nicht mit sich handeln‹, habe ich ihm gesagt.«
Es war das erste Mal, dass die fröhlichste und leichtlebigste der Sternbergtöchter, die, die am besten Wirklichkeit auszublenden und Trauer zu verdrängen wusste, vom Mord an einem Menschen erfuhr, dem die Mörder nichts anderes anlasteten als seinen jüdischen Glauben und seinen geschäftlichen Erfolg. Sie fragte sich, während jeder Herzschlag ihren Körper zu sprengen drohte, ob es ihr noch gelingen würde, Lilly Bär so anzuschauen wie zuvor. Wie sollte sie mit ihr über das Wetter und die Kurkonzerte sprechen, wie noch einmal mit ihr lachen, wenn Fanny ihren Bruder einen faulen Hund nannte? »Im Gefängnis gestorben, ohne dass Sie es wussten«, stammelte die Hilflose.
»Im Gefängnis umgebracht. Ein deutscher Mann, der Deutschland liebte.«
Der Kronleuchter strahlte im vollen Glanz, die Rieslingpfirsiche leuchteten herbstprall auf den Fleischplatten. Der Pianist spielte erst den Schlager des Jahres »Auch in Frankfurt am Main« aus dem Singspiel »Der Königsleutnant« von Fred Raymond und danach »Wir ziehen durch die Heimat« aus dem Film »Mädels von heute«. Die Gäste legten das Besteck aus der Hand. Sie lehnten sich zurück und applaudierten, doch es klatschten nur jene Beifall, die die neue Zeit bestimmt hatte, auf der Gewinnerseite zu stehen. Die Witwe Lilly Bär und Frau Feuereisen, die eine fast am Ziel, die andere erst am Beginn ihres Dornenweges, rührten stumm in den Mokkatassen mit dem feinen Goldrand. Victoria merkte nicht, dass der verschreckte Kellner nicht mehr dazu gekommen war, die ihre zu füllen, und setzte sie an den Mund.
»Wir gehören nicht mehr hierher«, sagte Frau Bär. »Nicht nach Baden-Baden und nicht in den Hirschen. Und bald nicht mehr nach Deutschland. Es war ein Fehler, dass
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