02 Die Kinder der Rothschildallee
Türrahmen und hob seine Rechte zum Hitlergruß. Mit der Linken zog er eine Haarsträhne in die Stirn und zupfte schniefend an seinem imaginären Schnurrbart. Snipper, der Hund mit der unverwüstlich guten Foxterrierlaune, machte Männchen. Er ruderte aufgeregt mit seinen Vorderpfoten und bellte heiser. »Halt’s Maul«, befahl Erwin, »jüdische Hunde dürfen nicht mehr bellen. Hast du das immer noch nicht kapiert, du verfressener kleiner mosaischer Mistköter? Wegen dir mussten die braven Feuereisens aus der Wohnung. Ein deutscher Schäferhund hätte sich niemals so verhalten.«
Die kichernde Claudette rutschte vom Fensterbrett herunter. Sie klatschte in Kindermanier und rief mit hoher Stimme: »Bravo, Meister Snipper!« Für einen Moment, der das Herz ihrer Mutter zuschnürte, sah Claudette wie das kleine Zopfmädchen aus, das einst mit erhitzten Wangen und glänzenden Augen dem tapferen Polizistenbezwinger Kasperle zugejubelt hatte. Clara drückte ein Sofakissen auf ihr Gesicht; sie gab vor, sie würde auch lachen. Auch in Zeiten, da Tränen wahrhaftig nicht mehr als Schwäche gewertet wurden, scheute sie sich, Gefühl zu zeigen.
»Wie recht ihr doch habt«, verbeugte sich Erwin. »Mein Volk ist mein Schild und meine Stärke. Es zeigt mir, dass ich auf dem rechten Weg bin. Heil mich!«
Der Meisterkabarettist vom vierten Stock merkte, dass er erschöpft war. Er streichelte den schwanzwedelnden Hund und setzte sich zurück in den Schaukelstuhl. Weil seine Schultern bebten und er, genau wie seine Zwillingsschwester, nicht wollte, dass Alice und Claudette seine Verzweiflung bemerkten, suchte er Deckung hinter der »Frankfurter Zeitung«.
»Vorsicht«, warnte Clara, »du sitzt auf dem ›Prager Tagblatt‹. Das gehört nicht uns. Das habe ich mir nur ausgeliehen. Frau Neuländer aus der Vogelsbergstraße hat es von einer Cousine aus dem Badischen bekommen. Die wiederum wurde von einem Freund beliefert, der ursprünglich an der Heidelberger Uni Religionsphilosophie gelehrt hat und der nun in Prag mit preiswerten Seifenartikeln von Haus zu Haus zieht und tschechische Hausfrauen zu becircen versucht. Weiter konnte ich den Weg der eingeschmuggelten Meinungsfreiheit nicht zurückverfolgen.«
Es war ein Märzsonntag mit nebligem Himmelsgrau und einem Aprilregen, der die letzten Hoffnungsschimmer aus den Herzen der Bedrückten und Verzweifelten spülte. Weder die Krokusse noch die Osterglocken zeigten ihre Köpfe. In voller Blüte stand allein der deutsche Chauvinismus. Das Saarland war zurück ins Deutsche Reich gekommen. Adolf Hitler hatte die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht in Deutschland angekündigt. Dieser Bruch mit dem Versailler Vertrag erzürnte das Ausland. Deutschland jubelte. Es gab auch wieder eine Luftwaffe. Und seit vierundzwanzig Stunden gab es in Berlin die Ausstellung »Das Wunder des Lebens« mit dem durchsichtigen Menschen, einer Glasfigur, die das gesamte Innenleben eines Menschen sichtbar machte, als Prunkstück und mit der Forderung nach »Rassehygiene und Erbgesundheit«.
Um einem Lehrverbot zuvorzukommen, hatte der berühmte jüdische Religionsphilosoph Martin Buber bereits 1933 seine Professur an der Frankfurter Universität niedergelegt. Seit Februar hatte er nun totales Redeverbot. Der Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Unterricht hatte soeben eine neue Habilitationsordnung erlassen. Wer habilitieren wollte, musste für sich und seine Ehefrau den Nachweis der arischen Abstammung erbringen.
Die »Filmwelt«, eigens für Claudette gekauft, die immer sagte, im Kino fühle sie sich am wohlsten, weil im Dunkeln Juden die Nichtjuden nicht erzürnten, lag auf einem ledernen Hocker. Auf der Titelseite brachte das viel gelesene Magazin ein Foto von dem gefeierten Schauspieler Gustaf Gründgens. In dem Film »Das Mädchen Johanna«, der im April anlaufen sollte und der die Geschichte der Jungfrau von Orleans aus nationalsozialistischer Sicht deutete, spielte Gründgens König Karl VII. Clara griff nach der Zeitschrift und begann, sie gelangweilt durchzublättern.
»War der nicht mal mit der ältesten Tochter von Thomas Mann verheiratet?«
»Wer, Karl VII.?«, fragte Erwin scheinheilig.
»Quatschkopf. Gründgens!«
»Er war. Doch er soll sehr flexibel sein, unser Gustel. Hat immer seinen Wendemantel an. Außerdem, wer will ihm verdenken, dass ihm heute die Nazis näherstehen als seine ehemalige, jüdisch versippte Verwandtschaft.«
»Das hast du schön gesagt.«
»Ich
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