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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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ehemalige Patienten. Es war ihnen sichtlich unangenehm, den Häftling nicht als »Herr Doktor« anzureden. Beide waren sie ältere Männer mit grauem Haar, gebeugten Schultern und einem bekümmerten Blick. Sobald sich ein Gespräch unter vier Augen ergab, gestanden sie Meyerbeer, dass sie es nicht recht fanden, »was der Führer mit euch Juden macht«. Einer der Offenherzigen besorgte Meyerbeer eine Brille, allerdings mit der falschen Sehstärke, der andere verschaffte ihm einmal eine frische Unterhose und ein anderes Mal einen Nachschlag Graupensuppe.
    Was Meyerbeer von seinem Leidensgenossen zu hören bekam, wie groß das menschliche Leid war, wie vernichtend die Angst vor Haft und Folter und wie utopisch jeder Hoffnungsstrahl auf ein ertragbares Ende, machte ihn im Zeitraum von vierzehn endlosen Tagen zum Sünder. Er bat Gott, ihm in seinem Leben nur noch eine Bitte zu erfüllen – seine Frau möge vor ihm sterben und ihm so die Möglichkeit geben, die Stunde seines Todes selbst zu bestimmen.
    »Hier«, sagte er, als auf einer Bank am Mainufer die Rede auf diese Sünde kam, »ich hab’s versprochen. Es ist höchste Zeit, mein Versprechen einzulösen. Das hier schuld’ ich dir schon lange.« Die Freundeshand, federleicht und doch ein Trost, als sie den Arm berührte, steckte ein kleines, doppelt gefaltetes Kuvert in Johann Isidors Jackentasche. »Du weißt ja Bescheid«, sagte Meyerbeer. »Ich hab dir auch für Betsy genug reingelegt. Man kann nie wissen, wie man sich entscheidet, wenn es so weit ist.«
    »Danke«, sagte Johann Isidor. »Wie einfach Sterben doch für den ist, der die richtigen Beziehungen hat.«
    »Täusch dich da mal nicht, so was hat auch ein Arzt nicht in der Vorratskammer, und die Nachfrage wird immer größer.«
    Das Schild »Für Juden verboten« war der Olympiade wegen noch nicht wieder an der Bank angebracht, die Schraublöcher waren deutlich in der Lehne zu sehen. Auf dem Rasen vor der Bank hatte ein Mädchen aus kleinen weißen Steinchen ein Hakenkreuz gelegt und seine rot-weiß karierte Schürze samt Plüschhund neben dem Kunstwerk liegen lassen. Ein Mann mit roter Mütze schwenkte in einem Ruderboot ein weißes Küchentuch. Hoch beladen fuhr ein Kohlenschiff Richtung Rhein. Johann Isidor dachte an seinen Schwiegersohn. Mit steifen Fingern massierte er den Schmerz aus seiner Brust. Fritz hatte endlich in Amsterdam eine Anstellung gefunden, in einer Import-Export-Firma, noch dazu mit einem jüdischen Inhaber, doch Victoria, die ewig Bockige, wollte mit den Kindern so lange in Frankfurt bleiben, bis ihr Mann »eine passende Wohnung« aufgetan hätte.
    »Und ein Kindermädchen«, hatte Betsy weinend ihrer Tochter vorgeworfen. Auch Johann Isidor und die alte Frau Feuereisen, die Victoria noch im sechsten Jahr ihrer Bekanntschaft vergötterte, waren entsetzt. »Alle haben’s kapiert«, klagte Johann Isidor bei Meyerbeer, »nur die schöne Victoria nicht. Das kommt davon, wenn ein Mann seine Frau auf Händen trägt. Ich hab Fritz von Anfang an gewarnt. Er ist zu anständig. Victoria braucht eine feste Hand. Da lob ich mir meine Alice. Die erwartet keine passende Wohnung im afrikanischen Busch, ihr reicht der passende Mann. Sie ist fast schon bei ihm, unsere Jüngste.«
    Aus dem dichten Schatten der Bäume tauchte eine junge Frau im grellen Sonnenlicht auf. Mit Charme und Chic, mit flammend roten Lippen und nachtschwarz nachgezogenen Augenbrauen trotzte sie dem Bild der idealen deutschen Frau. Für deutsche Frauen hatte nur des Führers Wort Gewicht, sie schminkten sich nicht und flochten ihr Blondhaar zum Kranz. Das nussbraune Haar der schönen Spaziergängerin aber wehte wie ein Banner im Wind. Sie hatte Hüften, die Frauen neidisch machten und bei alten Männern das Gedächtnis in eine Richtung belebten, die sie sehr genierte. Ihr eng geschnittener Rock bedeckte nicht einmal die Knie, die rosa Spitzenbluse spannte über der Brust. Auf Stöckelschuhen mit Fesselriemchen schob die junge Mutter einen hohen weißen Korbwagen. Neben einer Käthe-Kruse-Puppe mit grünem Jägerhut brabbelte ein fröhliches kleines Mädchen. Frau Mama sang den beiden arglosen Geschöpfen das traurige alte Kinderlied »Maikäfer flieg« vor. Ihr Busen wogte. Das Kind zeigte beim Lachen zwei Zähne.
    »Der Vater ist im Krieg«, murmelte Johann Isidor. »Manchmal aber auch der Sohn.«
    Er dachte an Otto, der im letzten Brief seines Lebens »Schickt mir ein Mittel gegen Durchfall und ein Bild von Euch« geschrieben

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