02 Die Kinder der Rothschildallee
hungrigen Juden interessiert hätte.«
Auf den ersten Blick schien Meyerbeer gesund und ganz der Alte, wenn er auch in zwei Wochen drei Kilo an Gewicht verloren und einen sehr trockenen Husten hatte. Doch er war auffallend schreckhaft, schlief nachts höchstens drei Stunden und neigte häufig dazu, in seinen Berichten Vergangenheit und Gegenwart zu verwechseln. Am dritten Tag nach seiner Heimkehr fragte er nach einem kurzen Mittagsnickerchen seine Frau, ob Deutschland den Krieg gewonnen hätte und wie.
Die Umstände seiner Verhaftung und die Erlebnisse in der Haft schilderte er dann im größeren Kreis allerdings mit der Präzision, die sein Berufsleben bestimmt hatte. Anwesend waren an diesem Nachmittag, der in der Erinnerung aller unangenehm lebendig blieb, seine Frau und seine konsternierte Tochter mit ihrem schwerhörigen Mann, der naturgemäß seinen Ohren nicht traute und ständig um die Wiederholung der widerwärtigsten Details nachsuchte. Gekommen war auch Meyerbeers fünfunddreißigjähriger Enkelsohn, ein Kinderarzt, dem die Nazis schon 1933 die Approbation entzogen hatten und der nun mit aller Energie, die ihm geblieben war, die Auswanderung seiner Familie nach Australien betrieb. Seine Frau war kalkbleich und sagte den ganzen Nachmittag kaum ein Wort. Meyerbeers zehnjährige Urenkelin, Schülerin am Frankfurter Philanthropin und nach dem Dafürhalten ihrer Eltern an einer jüdischen Schule weitgehend von der Entwicklung in Nazideutschland geschützt, wurde ins Nebenzimmer delegiert, doch verweigerte sie kopfschüttelnd den elterlichen Befehl. »Ich weiß sowieso alles«, sagte das Kind. »Der Vater von meiner besten Freundin ist vor vier Wochen aus Dachau zurückgekommen. Und dem Vater vom Michael Rosenfeld haben sie vier Zähne ausgeschlagen.«
Sternbergs waren die einzigen Anwesenden, die nicht zur Familie gehörten. Johann Isidor hatte »für bessere Tage« eine Flasche roten Burgunder mitgebracht, außerdem Clara, die um die Einladung gebeten hatte. In einer sentimentalen Anwandlung und in Erinnerung an alte Zeiten, als ihre Freundinnen sie für eine literarische Kapazität gehalten hatten, brachte Frau Betsy eine auf dem Buchmarkt viel gefeierte Neuerscheinung als Gastgeschenk: »Die Sterne blicken herab« von Archibald Joseph Cronin. Der international erfolgreiche Roman gefiel der deutschen Leserschaft aus einem speziellen Grund. Weil er im walisischen Bergbaumilieu spielte, konnte man auf angenehmste Art den eigenen Problemen und gleichzeitig der gesamten Hakenkreuzwelt entkommen. »Außerdem«, hatte Frau Betsy zu Clara gesagt, »erregt das Buch keinen Anstoß bei Hausdurchsuchungen. So was muss man heutzutage bedenken.«
Im Widerspruch zu seiner gewohnten eher untertreibenden Art gebrauchte Doktor Meyerbeer bei der Schilderung seiner Erlebnisse sowohl Ausdrücke als auch Begriffe, die er bis zum Tag seiner Verhaftung als schockierend, brutal und vulgär abgelehnt hätte. »Die feine akademische Art eignet sich eben nur bedingt, um ein deutsches Gefängnis zu schildern«, entschuldigte er sich einmal.
Nach seinem schonungslosen Bericht im Familienkreis mochte er überhaupt nicht mehr über das ihm Widerfahrene reden. Über seine Haft und die verlorene Zuversicht, »dass wir aus diesem Schlamassel heil herauskommen«, redete er fortan ausschließlich mit Johann Isidor. Sie gewöhnten sich an, täglich spazieren zu gehen, Schulter an Schulter, im gleichen müden Schritt, aber doch zufrieden mit dem Gleichklang ihrer Seelen. »Wie ein Liebespaar«, spottete Meyerbeer.
»Eher wie Pantoffelhelden, die vor ihren Frauen flüchten«, befand Johann Isidor.
Partiell stimmte das. Man fürchtete nicht nur zufällige Lauscher und Denunzianten, die auf die Chance lauerten, Nachbarn anzuzeigen, mit denen sie vor Hitler in Frieden und gegenseitiger Achtung gelebt hatten. Wer wie Meyerbeer erlebt hatte, welche unglaublichen Windungen und absurden Zufälle einen unbescholtenen Bürger ins Verderben führten, redete auch im eigenen Wohnzimmer nicht viel. Frau Betsy war zwar ein wenig gekränkt, wenn ihr Mann jeden Nachmittag nach Stock und Hut griff, doch sie fragte ihn nie, weshalb er plötzlich so viel mit dem Freund zu bereden hätte. »Kommt Zeit, kommt Antwort«, sagte sie zu Clara.
Frau Meyerbeer war eine peniblere Beobachterin. Sie registrierte die kleinste Veränderung und war entsprechend besorgt. Ihr Mann, von dem sie ihr ganzes Eheleben streng und vergebens Häuslichkeit und Disziplin eingefordert
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