02 Die Kinder der Rothschildallee
Johann Isidor auf, dass überall die Fenster offen standen und dass in vielen Wohnungen die Radios auf volle Lautstärke gestellt waren. An einem Montag der Norm wäre das aufgefallen, doch an diesem speziellen wurde im griechischen Olympia auf der Peloponnes das olympische Feuer entzündet. Der erste Fackelläufer war schon unterwegs in Richtung Athen. Der Deutsche Rundfunk übertrug die Feierstunde direkt von dort. Der Sprecher sagte, dies wäre eine »Meisterleistung deutscher Technik«. Ein Filmteam unter Leitung der deutschen Regisseurin Leni Riefenstahl wollte den Übertragungswagen des Rundfunks von Olympia nach Berlin begleiten.
Josepha jubelte, als der Hausherr mit dem Päckchen von Metzger Schwabe nach Hause kam, denn Victoria war mit den Kindern überraschend zu Besuch gekommen. Es hätte, wie montags immer, Erbsensuppe geben sollen. Erbsensuppe am ersten Tag der Woche war ein Relikt aus sorgenfreier, wohlhabender Zeit. Da war montags die Waschfrau ins Haus Sternberg gekommen und hatte kräftige Kost gebraucht. »Gott«, freute sich Josepha, als sie den Kartoffelbrei für die Kalbsleber stampfte, »hilft doch immer in der Stunde der Not. Mir wäre es ganz schrecklich gewesen, den kleinen Salo mit Erbsensuppe zu füttern. Hülsenfrüchte für Kinder hat es in diesem Haus in vierzig Jahren nicht gegeben.«
Salos Großvater vertrug auch die Kalbsleber nicht. Erst im Bett und im Trost der gnädigen Dunkelheit erzählte er seiner Frau, dass ihm das Haus in der Glauburgstraße nicht mehr gehörte und höchstwahrscheinlich bald auch nicht mehr die Posamenterie in der Hasengasse. »Aber von der Rothschildallee«, beruhigte er Betsy, die in ihre Kissen weinte, »trenne ich mich nicht aus freien Stücken. Das verspreche ich dir. Ehrenwort. So junge Leute wie wir können ja schließlich nicht ins Altersheim ziehen.«
11
LEBT WOHL FÜR IMMER
März bis November 1937
Am 15. März 1937 kam Josepha früher als erwartet von ihrem Montagseinkauf nach Hause – im Korb die ersten Radieschen der Saison, den ersten grünen Salat und vor allem die von Erwin hoch geschätzte Rundfunkzeitschrift »Das neue Funkblatt«. Die Zeitung brachte für zehn Pfennig das Programm aller deutschen Sender, außerdem einen Kriminalroman, dessen Fortsetzungen Josepha ausschnitt und in einem alten Aktendeckel mit der Aufschrift »Dr. Friedrich Feuereisen, Rechtsanwalt und Notar« abheftete, sowie ein Kreuzworträtsel, für dessen Lösung sie die ganze Woche brauchte. Das Rezept für den Eintopftag schnitt sie immer sofort aus und stets mit dem gleichen angewiderten Ausdruck. Dann riss sie die Empfehlungen aus der nationalsozialistischen Küche in winzige Stücke und warf sie mit blutrünstigen Verwünschungen in den Mülleimer. »Wenn der Führer dich erwischt«, pflegte Erwin sie zu necken, »musst du zur Strafe sofort zu ihm in Stellung gehen. Bestimmt auf dem Berghof in Bayern. Dort zieht es ganz jammervoll, habe ich mir sagen lassen, und es gibt jeden Tag Eintopf.«
Trotz einer schmerzenden Brandwunde am Arm war Josepha bester Laune. »Radieschen hat noch längst nicht jede gekriegt«, berichtete sie, als sie die Suppenterrine hereinbrachte. »Da musste sich die alte Josepha allerhand einfallen lassen, ehe sie die Hexe im Gemüsegeschäft endlich dazu brachte, in die Kiste vom Gärtner aus Oberrad zu schauen. Aber damit unsere Claudette wieder rote Backen bekommt und man nicht mehr ihre Rippen zählen kann, kriech ich auch so einer Nazihexe in den fetten Hintern, wenn es sein muss.«
Nicht nur Josepha sorgte sich um Claudette. Seitdem Alicens Schiff am letzten Tag im Januar von Hamburg abgefahren war, war Claudette niedergeschlagen, blass und appetitlos. Sie nahm kaum an Gesprächen teil und ging nicht mehr als nötig mit ihrem Hund spazieren. Sowohl Doktor Meyerbeer als auch Betsy setzten, wie in den letzten fünfzig Jahren, auf die spontane Heilkraft von frischem Gemüse. Bis Mitte März hatte es in den Geschäften nur Kohl, Rote Bete und Erdrüben gegeben, doch selbst die seit ihrer Kinderzeit heiß geliebten Kohlrouladen hatten Claudette nicht zum Essen bewegen können. »Alice«, klagte sie, »war die einzige Freundin, die mir noch geblieben war.«
Die Rundfunkzeitschrift aus dem Ullsteinverlag, die Josepha vom Montagseinkauf mitbrachte, bezeichnete Erwin als seinen »Rettungsring« – neben den Programmen aller deutschen Rundfunkanstalten veröffentlichte das Blatt auch die der Auslandssender, die zu empfangen waren. Am
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