02 Die Kinder der Rothschildallee
meisten gelegen war Erwin an einem Schweizer Sender, der seine Hörer nicht mit der gängigen Nazipropaganda narkotisierte, sondern umfassend über die Weltpolitik informierte und auch vom Schicksal der deutschen Dichter im Exil berichtete. Durch seinen geschätzten Haussender hatte Erwin soeben erfahren, dass Papst Pius XI. eine Enzyklika über die Lage der Katholischen Kirche im Deutschen Reich erlassen hatte und darin mit »brennender Sorge« die Verfolgung der Kirche in Deutschland kritisierte. Erwin machte einen Versuch, seinem Vater über die Entwicklung in Rom zu berichten, vertagte das Gespräch jedoch sofort: Josephas Redefluss war nicht zu stoppen.
Sie versorgte die Familie gerade mit dem neuesten, spezifisch Frankfurter Gerücht. Frau Obermeier, mit der sie in jungen Jahren im Kirchenchor gesungen hatte und deren Sohn im städtischen Bauamt Dienst tat, hatte ihrer Freundin vor dem Kurzwarengeschäft in der Berger Straße unter dem Siegel der Verschwiegenheit Beängstigendes anvertraut. Die Obermainbrücke am Deutschordenshaus könnte nicht, wie vorgesehen, renoviert werden, erzählte Josepha. Alles verfügbare Eisen wäre in die Rüstungsindustrie gegangen.
»Was braucht es Brücken?«, fragte Erwin. »Ein tapferer deutscher Soldat schwimmt in den Krieg.«
»Wände haben Ohren«, mahnte Betsy. Sie schlug mit dem Kaffeelöffel leicht ans Glas. Fanny lächelte verschwörerisch und legte einen Finger auf ihre Lippen.
»Der Wolf, der die Oma vom Rotkäppchen gefressen hat, hat ganz große Ohren gehabt«, steuerte der kleine Salo bei.
Wie in den glückhaften Zeiten, als Clara, Erwin und Victoria noch bei Tisch über die gerechte Verteilung von Götterspeise debattiert hatten, war bei den Sternbergs die Tradition des gemeinsamen Mittagessens wieder aufgenommen worden. Für Menschen, denen keine regelmäßige Arbeit mehr vergönnt war, gab bereits eine Mahlzeit zu festgesetzter Stunde dem Tag ein angenehm festes Gefüge. Wie meistens, war Victoria mit den Kindern gekommen, ohne sich anzusagen. Die Kleinen waren besonders quirlig und gut gelaunt, ihre Mutter missgestimmt und barsch im Ton.
Die Stimmung war entsprechend gespannt. Vor allem der Hausherr war nervös. Johann Isidor liebte zwar seine Enkel, doch sie forderten von ihm weit mehr Kraft, als ihm geblieben war. Die sechsjährige Fanny war ins Philanthropin eingeschult worden. Bis dahin war sie ein argloses und heiteres Plappermaul gewesen; doch nach nur wenigen Monaten in der Gemeinschaft von ausschließlich jüdischen Jungen und Mädchen und von jüdischen Lehrern wusste sie bedrückend viel von der Welt, in der sie lebte. Sie war ernst und schweigsam geworden, fragte wenig und überlegte genau, ehe sie antwortete.
Der vierjährige Salo, ein körperlich schwächlicher und sensibler Junge, der die Abwesenheit des Vaters nicht verwinden konnte, ängstigte hingegen die gesamte Familie mit seiner Mitteilungsbedürftigkeit. Vor allem seinen Großvater und seinen Onkel machte er mit seiner ausdauernden Redefreudigkeit unglücklich. Wohl stand sie im eklatanten Gegensatz zu seinem schüchternen Naturell, doch in Geschäften, in der Apotheke und selbst auf der Straße drängte es Salo, die Hoffnungen und Enttäuschungen seines Lebens mit anderen Menschen als der Verwandtschaft zu teilen. Überall erzählte der Unermüdliche, er würde bald »zu seinem Papi und den großen Schiffen nach Amsterdam fahren«. Für einen schmächtigen Knaben mit schmaler Brust verfügte Salo Feuereisen zudem über ein Stimmvolumen, das im Jahr 1937 für jüdische Familien brandgefährlich war.
Johann Isidors extreme Nervenanspannung hatte an dem Tag begonnen, als er Alice zum Zug nach Hamburg gebracht hatte – in einem himmelblauen Mantel, der in quälenden Nächten sein Gedächtnis und sein Herz schikanierte, und mit einem weißen Tropenhelm im Gepäck, den Anna für sie hatte kaufen müssen. An der Eingangstür vom Geschäft für Tropenbedarf hatte ein Schild mit der Aufschrift »Juden werden hier nicht bedient« geklebt. Obwohl die umhegte und oft sehr egoistische Alice sich bei ihren ersten selbstständigen Schritten ins Leben vollkommen anders verhalten hatte, als ihre schwarzseherischen Eltern erwartet hatten, blieb Johann Isidor so besorgt um seine jüngste Tochter, als sei sie in einem Erdloch verschwunden und hätte ihrer Familie nie mehr ein Lebenszeichen zukommen lassen.
Das Gegenteil war der Fall. Alice hatte in jedem angelaufenen Hafen Post aufgegeben; die
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