02 Die Kinder der Rothschildallee
gar nicht mehr kommen.«
»Sie wird sich wundern«, wusste Meyerbeer, »ich habe noch bei keinem erlebt, dass das Alter angenehme Überraschungen bringt.«
Johann Isidor dachte viel über die Veränderungen nach, die seit 1914 das Leben der Deutschen im Allgemeinen und das seine im Besonderen prägten. Was war aus dem deutschen Vaterland geworden, dem der deutsche Kaiser versprochen hatte, es würde keine Konfessionen mehr geben und alle Menschen wären Brüder? Ein zerronnener Traum! In den Amtsstuben und in den Schützengräben, an Wirtshaustischen und in der Presse hatte man – mitten im Krieg – den jüdischen Bürgern Drückebergerei vorgeworfen. Die Regierung hatte eine »Judenzählung« angeordnet, die sollte eruieren, wie hoch der Anteil der Juden war, die sich vom Militärdienst hatten zurückstellen lassen; es waren prozentual ebenso viele jüdische wie nichtjüdische Soldaten gefallen, doch das Ergebnis war nie bekannt gegeben worden.
Nach dieser berüchtigten Aktion war es vorbei mit der Illusion der deutschen Juden, sie wären gleichberechtigte, wohlgelittene, assimilierte Bürger in ihrem deutschen Vaterland. Als er von der »Judenzählung« erfuhr, hatte sich Johann Isidor im Zimmer seines gefallenen Sohns eingeschlossen und sich immer wieder die Frage gestellt, auf die er zeitlebens keine Antwort mehr finden sollte. Und nie mehr war es ihm gelungen, zu verdrängen, was nicht zu vergessen war.
Trotzdem blieb er der Alte – ein gesetzestreuer, pflichtbewusster deutscher Bürger jüdischen Glaubens, dem Deutschland Heimat und die Muttersprache heilig waren. Wie früher ihren Schwestern bläute er auch seinem jüngsten Kind Alice ein, ein jüdisches Mädchen müsse besonders folgsam sein und dürfe »bloß nicht auffallen. Wenn einer aus der Reihe tanzt«, empfahl der ewig angepasste Vater, ohne dass ihm aufging, was er wirklich sagte, »sollen es die Gojim sein.«
Als er seiner Enkelin zum siebten Geburtstag eine Puppe schenkte und Claudette die schwarzhaarige Schönheit Rebekka nannte, war er entsetzt. Er warf seiner ältesten Tochter vor, sie würde ihr Kind zur Außenseiterin erziehen. Allerdings konnte selbst dem guten Deutschen Johann Isidor Sternberg nicht entgehen, dass der Wind rau geworden war und dass sich der Himmel in seiner geliebten Heimat verfärbt hatte. Wie im Mittelalter, als die Pest gewütet hatte, waren die Juden wieder der Sündenbock, diesmal schuld am verlorenen Krieg und der wirtschaftlichen Not der Zeit.
Johann Isidor Sternberg senkte nicht den Kopf. Er studierte weiter seine Bilanzen, stand zufrieden vor den Schaufenstern seiner Läden, kam nach Hause von seinem Verlag und war dankbar, dass der geschäftliche Erfolg ihm durch alle Stürme der Zeit treu geblieben war. Der Tisch im Hause Sternberg wurde so reich gedeckt wie vor dem Krieg. Der Familienvorstand brauchte die Seinen nicht zur Sparsamkeit anzuhalten. Großzügig versorgte er sein vaterloses Enkelkind; er zankte nicht mit Clara, wenn sie ihm die hohen Rechnungen für ihre anspruchsvolle Lebensweise brachte. Nie fragte er Victoria, wie sie sich ihre Zukunft vorstellte, und er unterstützte schweigend einen Sohn, der sich den Glauben nicht nehmen ließ, die Menschen würden eines Tages Schlange stehen, um seine Bilder zu kaufen.
Dass es einsam um den Mann der Pflicht geworden war, hielt er keineswegs für das Merkmal einer Zeit im Umbruch, eher für eine Begleiterscheinung des Alters. Die Scheuklappen, ohne die er selbst in seinen besten Jahren nicht ausgekommen war, schützten ihn. Die Kunst, bei Bedarf die Wirklichkeit auszublenden, war immer noch eine verlässliche Stütze. Nie sprach er von den begrabenen Hoffnungen und schon gar nicht, wie sehr es ihn peinigte, dass mit Ausnahme von Anna seine Kinder den sternbergschen Weg verweigerten. »Meine schrecklichen Kinder«, sagte er einmal zu Betsy, obwohl er kein Wort Französisch sprach und den Ausdruck »Enfant terrible« nicht kannte.
Es wurde einsam um den »tüchtigen Herrn Sternberg mit dem goldenen Händchen«. Das gesellschaftliche Leben mit Einladungen und Gegeneinladungen, das in der Kaiserzeit dem Leben Glanz und Inhalt gegeben hatte, gab es nicht mehr. Die Freunde wurden schweigsam, aus Bekannten wurden Erinnerungen, die von Jahr zu Jahr mehr verblassten. Die Leute gingen eilig weiter, wenn sie Johann Isidor auf der Straße trafen. Keiner wollte mehr wissen, was er von der allgemeinen Lage halte und wie es der »charmanten Gattin« gehe.
Selbst
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