02 Die Kinder der Rothschildallee
war gerührt. Betsy, in jeder Lebenslage eine Kameradin, gönnte sich, genau wie zu den Zeiten, da die Kinder klein waren, keinen Moment Ruhe, wenn einer in der Familie krank war. Nicht nur, dass sie am frühen Morgen bis zum Uhrtürmchen auf der Berger Straße gelaufen war, um das Suppenhuhn und frische Petersilie zu besorgen. Sie hatte auch sämtliche Zeitungen und Zeitschriften im Haus nach deren Datum geordnet und sie auf den Beistelltisch neben Johann Isidors Sessel gelegt. Mit Behagen, weil er nun doch die Unterbrechung seiner üblichen Tagesroutine zu genießen begann und weil ihm die Hühnerbrühe tatsächlich wohlzutun schien und seine Stimmung auf eine Weise aufhellte, die ihn verblüffte, begann der Kranke mit seiner Lektüre.
Gewöhnt, sich die Zeitungen erst nach erledigtem Tagespensum zu gönnen, empfand er das Tageslicht als willkommenes Geschenk für seine schwach gewordenen Augen. Konzentrierter als sonst las er die aktuellen Berichte, beschäftigte sich aufmerksam mit Katastrophen aller Art, hatte seine Freude am Gemischten und den Berichten aus dem Ausland. Es stimmte ihn froh, dass er nicht mit seiner Zeit zu kargen brauchte; er genoss die kleinen Grübeleien, zu denen er neigte, und die ausschweifenden Analysen, die sich aus ihnen ergaben. Selbst die Kulturnachrichten fand der eifrige Zeitungsleser nicht so uninteressant wie sonst. In Berlin war soeben der Film »Die Lady ohne Schleier« mit Lil Dagover, für die er ein geheim gehaltenes Faible hatte, aufgeführt worden und zeitgleich ein Lustspiel mit dem Titel »Der Juxbaron« mit Marlene Dietrich. Von der behauptete ausgerechnet Doktor Meyerbeer, der sich ja sonst eher für Frauen im kranken Zustand interessierte, sie würde noch eine große Karriere machen. Johann Isidor hatte mit einer Flasche Ingelheimer Rotwein dagegengesetzt. Er lächelte und versuchte zu pfeifen.
Zurück in die deutsche Wirklichkeit brachte ihn die Meldung, dass der deutschnationale Politiker Alfred Hugenberg Aktien der UFA im Wert von fünfzehn Millionen Reichsmark erworben und sich damit die Vorherrschaft in dem Konzern gesichert hatte. Auf der gleichen Seite wurde berichtet, dass Adolf Hitler, gegen den Bayern soeben das Redeverbot aufgehoben hatte, vor fünftausend jubelnden Münchnern im Zirkus Krone geredet hatte.
»Wo sonst als in einem Zirkus soll so ein Narr sein Publikum finden?«, murmelte Johann Isidor.
Einen Augenblick, in dem sein Herz zu schnell schlug und er sich deshalb aufs Neue ängstigte, bedauerte er, dass Erwin nicht da war – sein Sohn liebte solche Anspielungen und hatte eine gewaltige Abneigung gegen die Nationalsozialisten. Johann Isidor fand Erwins Aversion ziemlich übertrieben und sehr typisch für einen Mann, der in allem zu gefühlsbetont reagierte und schon als Junge dazu geneigt hatte, mit Kanonen auf Spatzen zu schießen. Obwohl Vater und Sohn seit Jahren nicht mehr einer Meinung gewesen waren und sie sich gegenseitig für bedauernswerte Trottel hielten, die mit geschlossenen Augen durchs Leben gingen, vermisste der Vater seinen Sohn öfter, als er wahrhaben wollte. Schließlich hatte Johann Isidor Sternberg sein ganzes Leben lang immer nur das Wort aus Männermund ernst genommen. In melancholischer Stimmung bedrückte es ihn, dass er der einzige Mann im Hause war.
Als die Zwillinge noch ausschließlich auf die Mutter fixiert waren, Otto aber schon mit dem Vater von Mann zu Mann über die Schlagkraft seiner Zinnsoldaten debattierte, fiel es dem Hausherrn nicht auf, dass in der Familie Sternberg das weibliche Element dominierte. Nach Ottos Tod und seitdem Erwin in Berlin lebte, konnte er seine Gedanken und Empfindungen, die Hoffnungen und Enttäuschungen ausschließlich Betsy oder Anna anvertrauen. Sosehr er seine Frau und seine Herzenstochter schätzte, er kam nie gegen das Vorurteil an, das fast alle Männer seiner Generation gegen Frauen hegten.
»Sie sehen immer nur ihre klitzekleine Welt und nie das große Ganze«, beklagte sich Johann Isidor bei Meyerbeer. Am 21. Februar war ein Geschäftsgebäude in Frankfurt, das zu einem Kinopalast umgebaut werden sollte, während der Bauarbeiten eingestürzt. Drei Tote und dreißig Verletzte waren zu beklagen gewesen, doch Frau Betsy, die gerade Küche und Bad renovieren ließ, hatte am Tag der Tragödie den ganzen Abend gejammert, dass Josepha zum Sonntag keine warme Mahlzeit würde kochen können. »Sie hat doch tatsächlich gesagt«, erinnerte sich Johann Isidor, »schlimmer kann es ja
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