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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Aufnahme zeigte sie nur halb bekleidet auf einer Couch liegen. Alice, deren Mutter noch nicht einmal bereit gewesen war, ihr zu erklären, wie es in einer freudlosen Gasse zuging und wo es eine solche gab, übte jeden Abend vor dem Schlafengehen die laszive Pose der Garbo – mit hochgeschürztem Nachthemd und hochgebundenem Haar.
    »Den reichen Leuten ihre Sorgen möchte ich auch mal haben«, schniefte Frau Winkelried in ihr rotweiß kariertes Taschentuch. Sie machte gerade in der Küche Pause vom Bügeln, hatte sich, wie üblich, zwei Flaschen Malzbier geben lassen und strich das gute Gänseschmalz mit Apfel und Grieben, das vom Winter übrig geblieben war und das Josepha für Erwins nächsten Besuch hatte aufheben wollen, dick auf eine Scheibe Schwarzbrot. »Meine Kinder waren noch nie in keinem Kino«, bemängelte die kauende Rebellin, »von was denn auch?«
    »Das hat die gnädige Frau auch gedacht«, grinste Josepha. Sie griff entschlossen nach dem hellgrauen Schmalztopf aus dem Westerwald und trug ihn, die Lippen aufeinandergepresst, die Brust würdevoll herausgestreckt, zurück in die Speisekammer. »Wo er hingehört«, sagte sie vorwurfsvoll. Josepha hatte die gleiche Abneigung gegen Frau Winkelried wie ihr Chef.
    Erst als er Alice fröhlich »Auf Wiedersehen« trompeten hörte, sie die Wohnungstür so laut zuschlug und danach polternd die Treppe hinunterrannte, wie das in Mietshäusern nur die besitzerprobten Kinder der Hauswirte tun, fand der kränkelnde Hausherr seine Ruhe zurück. Er saß nun wieder in seinem Arbeitszimmer, den Fuß auf den Lederhocker und das bestickte Kissen gebettet. Von Zeit zu Zeit atmete er tief ein und ebenso bewusst wieder aus, dies eine der vielen Empfehlungen Doktor Meyerbeers, von denen Johann Isidor zu sagen pflegte, sie würden zumindest nichts schaden und auch nichts kosten.
    Als er an den kleinen Witz und die gewohnten Dispute mit Meyerbeer dachte und dass diese nie bösartig waren, sondern ihm vielmehr ein beruhigendes Stück Vertrautheit vermittelten, lächelte der Patient. Es machte ihm Freude, dass der Eichelhäher immer noch auf dem Baum in der Allee hockte, und er fand es absolut logisch, dass Johann Isidor Sternberg, der stets nach Vollkommenheit strebende Handelsmann, sich nicht die kleinste Pause vom Erwerbsleben gönnte, sondern sich weiter mit den Hutfedern beschäftigte, mit denen er die Umsätze in seiner Posamenterie zu beleben gedachte.
    Eine Wolke verdeckte schlagartig die Sonne. Über den Dächern zuckte ein Blitz auf. Mit der gleichen Plötzlichkeit verdunkelte sich Johann Isidors Stimmung. Veränderungen jeglicher Art, selbst solche, die ihn nicht persönlich betrafen, hatten ihn schon in der Jugend irritiert. Nun bedrückten sie ihn; sie erweckten Ängste, die er früher nicht gekannt hatte. Er sah den Vogel davonfliegen und starrte, ohne sich zu bewegen, auf den Ast, auf dem der Eichelhäher gesessen hatte. Seine Augen brannten, er spürte ein dumpfes Geräusch in den Ohren. Einen Augenblick war es ihm, als hätte er einen Freund verloren. Er zündete eine Zigarette an, beobachtete den Rauch aufsteigen und genierte sich seines Trübsinns.
    Es erschien ihm lächerlich und entwürdigend, dass ein Mann, dem einst jedermann Willensstärke und Haltung bestätigt hatte, es noch nicht einmal mehr mit einem schmerzenden Zeh aufzunehmen vermochte. Um seine Frau nicht zu kränken, trank er die Tasse fette Hühnerbrühe, die sie ihm um elf Uhr mit einer jener länglichen Käsestangen brachte, die neuerdings in vornehmen Restaurants zur Suppe serviert wurden und die er nicht ausstehen konnte. Seitdem Alice im vergangenen Herbst Ziegenpeter und eine Woche lang alarmierend hohes Fieber gehabt hatte und nur Flüssiges hatte schlucken können, hielt Betsy fette Hühnersuppe für ein Allheilmittel bei jeder Krankheit – in den mehr als dreißig Jahren ihrer Ehe hatte die treusorgende Gattin und allzeit besorgte Mutter nur bei schweren Erkältungen auf die Heilkraft von Hühnerbrühe gesetzt. Johann Isidor ertappte sich bei dem Wunsch, seine Frau hätte die fiebernde Alice mit Vanilleeis kuriert. Betsy hatte die Hühnerbrühe für den sich grämenden Gatten persönlich gekocht und damit Josephas Zorn erregt, denn die standesbewusste Köchin litt es nicht, dass ihr von irgendwem die Alleinherrschaft in der Küche streitig gemacht wurde. Die Hüterin des Heims hatte ihr Gebräu sowohl mit Butter als auch mit gequirltem Eigelb und Suppennudeln angereichert.
    Johann Isidor

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